Update: Kashiwazaki-Kariwa: weniger Erdbebenschäden als befürchtet
Das schwere Erdbeben vom 16. Juli 2007 vor der Westküste der japanischen Hauptinsel Honshu hat das Kernkraftwerk Kashiwazaki-Kariwa der Tokyo Electric Power Co. (Tepco) über die seismischen Auslegungsgrenzen hinaus beansprucht. Dennoch blieb die Sicherheit der sieben Siedewassereinheiten jederzeit gewährleistet. Die Schäden halten sich in Grenzen.
Das Erdbeben ereignete sich um 10:13 Uhr Ortszeit. Es löste die Schnellabschaltung der Blöcke 3 (1067 MW, BWR), 4 (1067 MW, BWR) und 7 (1315 MW, ABWR) aus. Die Blöcke 1 (1067 MW, BWR), 5 (1067, BWR) und 6 (1315 MW, ABWR) des weltweit grössten Kernkraftwerks waren für geplante Inspektionsarbeiten bereits abgeschaltet. Im Block 2 (1067 MW, BWR) begann gerade das Anfahren nach geplanten Inspektionsarbeiten. Er wurde ebenfalls sofort abgeschaltet. Die Sicherheitssysteme verhielten sich bestimmungsgemäss, die Nachkühlung der sieben Reaktoren sowie der Lagerbecken für bestrahlte Brennstoffe blieb jederzeit sichergestellt und ist weiterhin gewährleistet. Kein einziges bestrahltes Brennelement trug einen Schaden davon.
Schwarzer Rauch und zögerliche Information
Im Block 3 brach wenige Minuten nach dem Erbeben an einem der Eigenbedarfstransformatoren im Freien vor dem Maschinensaal ein Ölbrand aus. Die Betriebsfeuerwehr konnte ihn innert zwei Stunden löschen. Doch Fernsehaufnahmen der schwarzen Rauchschwaden erschreckten viele Menschen in der Umgebung, in ganz Japan und weltweit. Die anfangs wenig konkrete, zögerliche Information der Betreiberin von Kashiwazaki-Kariwa - der Tepco - trug wenig zur Beruhigung bei. Laut dem Urteil der Aufsichtsbehörde dauerte es übermässig lange bis zur Bestätigung, dass sich die sieben Blöcke in einem stabilen und sicheren Zustand befinden und die radiologischen Auswirkungen unbedeutend waren.
Mit ein Grund für die langsame Information war die Evakuation aller nicht unbedingt benötigten Mitarbeiter vom Standort gemäss Notfallplan mit der Folge, dass die für die radiologische Überwachung zuständigen Spezialisten ihre Kontrollen erst mit Verspätung durchführen konnten. Zudem fielen Telekommunikationsdienste zwischen dem Standort und der Hauptstadt aus, es kam zu Datenverlusten und die Aufsichtsbehörden konnten sich vorerst kein genaues Bild der Lage machen.
Sehr schweres Erdbeben
Das Epizentrum des Erdbebens lag in einer Tiefe von nur 10 km im Japanischen Meer nahe der Küste unweit der Stadt Kashiwazaki, das heisst 65 km südöstlich der Stadt Niigata und 240 km nordnordwestlich von Tokio. Als Magnitude gab der US Geological Survey den Wert von 6,6 auf der Richterskala an, einige japanische Quellen meldeten sogar 6,8. Im Bezirk Kashiwazaki lag die Intensität auf der Mercalliskala mit VI bis VII am höchsten, das heisst, die Auswirkungen waren schwer bis sehr schwer. Neun Menschen wurden getötet und annährend 1100 unmittelbar verletzt, darunter sieben auf dem Gelände des Kernkraftwerks Kashiwazaki-Kariwa. Die materiellen Schäden an Häusern und Infrastrukturen in der Präfektur Niigata sind gross, die Nachbeben waren zahlreich. Zudem ereignete sich im Japanischen Meer 330 km südwestlich 13 Stunden später noch ein Tiefenbeben mit einer Magnitude von 6,8.
Am Kraftwerksstandort kam es zu Bodenverflüssigung und Erdverschiebungen. Die Ablesung der 97 Seismometer am Standort gestaltete sich wegen der erwähnten Telekommunikationspanne schwierig. 30 Seismometer waren nach dem Niigata-Erdbeben vom 23. Oktober 2004 nachgerüstet und erst im April 2007 in Betrieb genommen worden. Gemäss der provisorischen Auswertung durch die Tepco erreichte die grösste Bodenbeschleunigung auf Fundamentniveau (Peak Ground Acceleration PGA) horizontal in Nordsüdrichtung 267-311 Gal (cm/s2), in Ostwestrichtung 322-680 Gal und vertikal 205-488 Gal. Der Durchschnitt dieser Messungen liegt erheblich über den für die Auslegung angenommenen PGA von 167-274 Gal für die dynamische horizontale Belastung und 235 Gal für die statische vertikale Belastung. Die automatische Schnellabschaltung erfolgt ab einer Bodenbeschleunigung von 120 Gal horizontal und 100 Gal vertikal.
Provisorische Schadensbilanz
Die Überprüfung hunderter Systeme und Leitungen auf dem weitläufigen Standort wird noch längere Zeit dauern. Die vorläufige Auflistung der Folgen und Schäden durch die Tepco umfasst 67 Einzelpunkte. Davon betreffen 15 radioaktive Materialien. Nur zwei Einzelpunkte sind laut den Kriterien der Kernenergieaufsichtsbehörde Nuclear and Industrial Safety Agency (Nisa) meldepflichtige Ereignisse, nämlich beim Block 6 die Abgabe radioaktiver Stoffe ins Meer und ein Kupplungsschaden am grossen Kran im Reaktorgebäude.
In allen Blöcken schwappte Kühlwasser aus den Lagerbecken für bestrahlte Brennelemente auf die Zwischenböden in den Reaktorgebäuden, konnte jedoch sofort ersetzt werden. In den Blöcken 1-5 verbogen sich die Abluftkanäle zu den Abluftkaminen. Beim Block 7 wurde in einer Nachkontrolle der Austritt radioaktiven Iods und Cr-51- sowie Co-60-Partikel festgestellt. Doch mit insgesamt rund 300 MBq lagen die Abgaben unter den Grenzwerten. Im Block 6 flossen in der nicht kontrollierten Zone des Reaktorgebäudes 1,3 Liter Flüssigkeit mit einer Gesamtaktivität von 16 kBq aus. In diesem Block leckten auch 1,2 m3 mit Co-60, Co-58 und Sb-124 radioaktiv belastetes, übergeschwapptes Wasser aus dem Lagerbecken durch eine undichte Kabeldurchführung in die Abwasserleitung und gelangten so ins Meer. Mit einer Gesamtaktivität von 90 kBq machte diese Abgabe indessen weniger als 10% des pro Quartal zulässigen Grenzwerts aus. Im Zwischenlager für schwachaktive Abfälle schliesslich stürzten einige hundert Fässer mit festen Abfällen von den Stapeln und bei einigen zehn sprang der Deckel auf. Trotzdem konnte im Lagerbereich, der bis zur Sanierung versiegelt wurde, keine erhöhte Aktivität festgestellt werden.
Auf der Liste der Schäden ohne Bezug auf radioaktive Stoffe fallen die verschiedenen Lecks von Isolationsöl auf, das sich indessen nur an einer Stelle - an einem externen Eigenbedarfstransformator des Blocks 3 - entzündete. An mehreren Blöcken wurden ausserdem verbogene Abblasstrecken entdeckt. Ferner stürzten in den Blöcken 4 und 7 Serviceplattformen in die Lagerbecken für bestrahlten Brennstoff, beschädigten jedoch keine Racks mit Brennelementen.
Forderungen und Folgerungen
Für die Tepco könnten die indirekten Schäden des Erdbebens - besonders der Produktionsausfall und der Vertrauensverlust durch Fehler bei der Information der Behörden und der Öffentlichkeit - die Schäden am Standort übertreffen. Die Tepco geht jetzt davon aus, dass die Überprüfung aller Systeme, die Instandstellung und die Implementierung möglicher Nachrüstungen viele Monate dauern wird. Im Sommer 2007 wird das Kraftwerk laut Tepco zur Deckung der absehbaren Bedarfspitze jedenfalls nicht zur Verfügung stehen. Bei normalem Wetterverlauf dürfte die Nachfrage trotzdem zu decken sein - vorausgesetzt, es fallen keine weiteren Kraftwerke aus. Wird es überdurchschnittlich heiss, schliesst die Tepco Versorgungsengpässe nicht aus.
Die Präfekten von Niigata und Fukui, die Nisa, die Nuclear Safety Commission sowie das Kabinett fordern nicht nur organisatorische und technische Verbesserungen, bevor Kashiwazaki-Kariwa wieder in Betrieb gehen darf, sondern auch eine Überprüfung der seismischen Auslegungsgrundlagen und Sicherheit aller Kernanlagen Japans. Solche Überprüfungen fanden nach allen grösseren seismischen Ereignissen, so dem Kobe-Erdbeben von 1995, statt. Sie führten regelmässig zu organisatorischen Verbesserungen und technischen Nachrüstungen - nicht nur in Japan. Erste Vorschläge geben die inzwischen auch in Englisch auf der Nisa-Internetsite pubilzierten Inspektorenberichte. Auf Einladung der japanischen Regierung hat die Internationale Atomenergie-Agentur (IAEO) ein Spezialistenteam zusammengestellt, das nach Besichtigung vor Ort am 6.-10. August gemeinsam mit den zuständigen japanischen Stellen den Zustand der Gesamtanlage abklären und mögliche Lehren für andere Kernanlagen erheben wird.
Quelle
P.B. nach NucNet, 17.–24. Juli, IAEO, Nuclear Event Based System, 18.–20. Juli, Nisa, Medienmitteilungen, 17. Juli bis 2. August, und Tepco, Medienmitteilungen, 19.–30. Juli, und IAEO, Pressemitteilungen, 24. Juli und 3. August 2007
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