«Too serious to play politics»

Grossbritannien steht in Sachen nukleare Neubaupläne heute fast so gut da, wie bei der Einführung der kommerziellen Kernenergie vor rund 50 Jahren. Der Reaktorunfall von Fukushima-Daiichi hatte eine Überprüfung der Reaktorsicherheit zur Folge. Die Projekte sind auch danach auf Kurs: An acht Standorten soll demnächst gebaut werden, denn das Land will seine CO2-Emissionen drastisch reduzieren und eine drohende Stromknappheit vermeiden. Die regierende Koalition und die Opposition sind sich da einig und haben unlängst grünes Licht gegeben. Die ersten Investoren stehen bereit.

26. Sep. 2011
Damals: Queen Elizabeth II bei der Eröffnung von Calder Hall…
Damals: Queen Elizabeth II bei der Eröffnung von Calder Hall…
Quelle: Cathode Ray Tube

Vom ersten Kernkraftwerk der Welt zur nuklearen Renaissance

Das erste kommerzielle Kernkraftwerk der Welt nahm in Grossbritannien den Betrieb auf. 1956 weihte Königin Elisabeth II die beiden Blöcke Calder Hall A und B mit je zwei mit Kohlendioxidgas gekühlten und Grafit moderierten Magnox-Reaktoren bei Windscale (heute Sellafield) ein.

Die Geschichte der britischen Kernenergie kam nicht ohne Rückschläge aus. So zum Beispiel 1957, als es in Windscale in einem Plutonium-Produktionsreaktor zu einem Moderatorbrand und in der Folge zu einer bedeutsamen Freisetzung von Radioaktivität kam. Oder etwa in den 1990er-Jahren, als die Rückstellungen für Entsorgung und Rückbau verschwunden und angeblich für den Bau von Sizewell B eingesetzt worden waren.

Die Industrie wie auch die Behörden haben ihre Lektionen gelernt und das Königreich ist auch heute in Bezug auf Kernkraftwerksneubauten wieder auf den vorderen Rängen, zumindest europaweit. Wenn auch andere Länder weiter fortgeschritten sind bei der Renaissance der Kernenergie, so ist Grossbritannien mit seiner Planung doch sehr gut dabei. Dass dieser «Rückstand» alles andere als ein Nachteil ist, hört man im Übrigen beim Gespräch mit Vertretern der britischen Nuklearindustrie ebenso oft wie seitens der Politik. Wie ursprünglich die Schweiz will Grossbritannien nämlich Reaktoren der fortgeschrittenen dritten Generation bauen lassen, nachdem in anderen Ländern schon Erfahrungen mit diesen Reaktortypen gemacht wurden.

Keine energiepolitischen Schnellschüsse

Der markanteste Unterschied zur Schweiz ist zweifellos der Umstand, dass in Grossbritannien nach dem Reaktorunfall von Fukushima-Daiichi niemand Schnellschüsse abgab und das Land an seiner Energiepolitik festhielt. Natürlich überdachten auch die Briten nach dem 11. März 2011 ihre Sicherheitskonzepte. Die ersten Resultate dieser Überprüfung lagen Ende Mai 2011 in Form eines Zwischenberichtes der Nuklearaufsichtsbehörde Office for Nuclear Regulation (ONR) vor. Der Bericht enthält 25 Empfehlungen für mögliche Verbesserungen der nuklearen Sicherheit. Gleichzeitig betont er, dass es keinen Grund gebe, die Kriterien für die Standortwahl in Grossbritannien zu ändern oder die Anzahl der zu bauenden Einheiten an einem Standort zu begrenzen. Zwar wirkte Fukushima sich auch in Grossbritannien auf das Ansehen der Kernenergie aus, wie die jüngsten Umfragen zeigen, doch bei weitem nicht so stark wie in der Schweiz. Nennenswerte anti-nukleare Protestbewegungen finden sich in England kaum. Es gibt sogar prominente britische Umweltschützer, die für die Kernenergie einstehen.

Der Klimaschutz ist denn auch eines der Hauptargumente für die Erneuerung des britischen Kernkraftwerkparks. Heute liefern Gas- und Kohlekraftwerke rund drei Viertel des in Grossbritannien produzierten Stroms. Gut 17% stammen aus Kernkraftwerken, der Rest von knapp 8% aus erneuerbaren Quellen. Dieser Mix führt zu hohen CO2-Emissionen. Ausserdem gehen die Kohle- und Gasvorkommen des Landes zur Neige und die heute noch in Betrieb stehenden 18 Kernkraftwerkseinheiten nähern sich dem Ende ihrer Betriebsdauer. In einem Weissbuch zur Energieversorgung betonte die Regierung zwar noch 2003, stillgelegte Kernkraftwerke würden nicht ersetzt und die Kernenergie sei unter den gegebenen Umständen unwirtschaftlich. Aber in den folgenden Jahren änderte sich diese Meinung und der damalige Premierminister Tony Blair gab 2005 ein neues Weissbuch in Auftrag. Schon im Jahr danach betonte er in einer Rede vor hohen Wirtschaftsvertretern, der Neubau moderner Kernkraftwerke sei zurück auf der Agenda. Sein Nachfolger Gordon Brown hielt nicht nur an diesen Plänen fest, er beschleunigte sie gar noch. Im Juli 2008 wurden die Pläne konkreter, als Brown den Bau von acht neuen Kernkraftwerken als Teil einer «nuklearen Renaissance» forderte.

…und heute: Fotomontage des geplanten Kernkraftwerks in Hinkley Point.
…und heute: Fotomontage des geplanten Kernkraftwerks in Hinkley Point.
Quelle: EDF Energy

Anreize für private Investoren

Seither hat sich diese Renaissance weiter materialisiert. Im Juni 2011 erschien das «Overarching National Policy Statement for Energy» (NPS) des Department of Energy and Climate Change (DECC). Es hatte eine umfangreiche Vernehmlassung mit über 2500 Stellungnahmen durchlaufen und schlug dem Parlament acht Standorte für neue Kernkraftwerke vor. Solche Planungsrichtlinien werden in Grossbritannien für alle Infrastrukturprojekte von nationaler Bedeutung verfasst, also neben Kern- und anderen Kraftwerken beispielsweise auch für Autobahnen oder interregionale Zugstrecken. Dank der umfangreichen und vertieften Vernehmlassung erübrigen sich weitere Volksbefragungen, wenn eine NPS einmal vom Parlament bewilligt wird. Dies war für die erwähnte NPS am 18. Juli 2011 der Fall, als das Parlament dieser und fünf weiteren NPS zustimmte. Damit kann nun eine umfassende Reform des britischen Strommarktes in Angriff genommen werden. Im nuklearen Bereich sieht diese Reform Anreize für private Investoren vor. Die Neubauten sollen ohne öffentliche Mittel, sprich Steuergelder, realisiert werden. Um potenziellen Investoren eine gewisse Sicherheit bieten zu können, schlug das DECC einen Ausgleichsmechanismus für den Strompreis vor. Unterschreitet der Marktpreis einen unteren Richtwert, wird den Stromlieferanten die Differenz bezahlt. Umgekehrt sollen diese der Regierung Gewinne abtreten, wenn der Preis über einem oberen Richtwert liegt.

Diese Anreize haben auch schon die ersten Lieferanten in Form von drei Konsortien auf den Plan gerufen. Am weitesten fortgeschritten sind die Verhandlungen mit EDF Energy UK, einem Joint Venture der französischen EDF mit der britischen Centrica. Sie wollen in Hinkley Point und Sizewell bis ins Jahr 2025 je zwei EPR bauen. Für die Einheit Hinkley Point C wurden am 28. Juli 2011 die ersten Bauplatzarbeiten genehmigt. Hinter der EDF Energy UK folgt die Horizon Nuclear Power Ltd., ein Joint Venture der deutschen Unternehmen RWE und E.On (E-Bulletin vom 6. August 2010). Diese müssen wegen des überstürzten Atomausstiegs Deutschlands über die Bücher und ihre Planung, bis 2025 insgesamt 6000 MW Leistung zu installieren, allenfalls anpassen. Am wenigsten konkret sind die Pläne des dritten Konsortiums mit dem Namen NuGeneration Ltd. bestehend aus der Iberdrola, der GDF Suez und der Scottish and Southern Energy (SSE).

Vorbereitende Arbeiten für Hinkley Point C.
Vorbereitende Arbeiten für Hinkley Point C.
Quelle: FUGRO Seacore

Selbstbewusste «Atomlobby»

Ein weiterer Unterschied zwischen dem Vereinigten Königreich und der Schweiz fällt beim Zusammentreffen mit Vertretern von Behörden, Politik und insbesondere Industrieverbänden auf. Letztere bezeichnen sich selbst fast mit Stolz als Lobbyisten. Das dürfte wohl daher rühren, dass der Begriff «Lobby» im angelsächsischen Sprachraum seit jeher deutlich weniger negativ konnotiert ist als im deutschen. Auch beim Umgang mit den Medien merkt man den britischen Atomlobbyisten ihr Selbstverständnis und -bewusstsein deutlich an. Der Medienverantwortliche der Nuclear Industry Association (NIA), John McNamara, hielt an der nuclea'10 ein Referat und wurde anschliessend von einem Schweizer Journalisten als «Spin Doctor» bezeichnet – noch so ein Begriff, der im Deutschen meistens abschätzig verwendet wird. An seiner Tischrede im Rahmen der Nuklearforums-Medienreise nach London vom Juli 2011 bedankte sich McNamara beim ebenfalls anwesenden Journalisten für dieses Kompliment.

Die britische Tageszeitung «The Guardian» wollte einen Skandal aufgedeckt haben, als ihr E-Mails zugespielt wurden, die zeigten, dass Regierungsvertreter sich mit Unternehmen der Nuklearindustrie absprechen wollten, «um die Kommunikation über Fukushima zu synchronisieren». Im erwähnten Rahmen darauf angesprochen, wies Peter Haslam von der NIA darauf hin, dass seine Organisation die entsprechenden E-Mails zwar erhalten, jedoch nicht beantwortet hatte, und er ergänzte: «Wir würden unseren Job nicht richtig machen, wenn wir uns in so einem Fall nicht absprechen würden.»

Ähnlich pragmatisch klingt es auch in der Politik. Als der Vertreter der Sozialdemokraten von einem Teilnehmer der Medienreise gefragt wurde, warum seine Partei nun, da sie in der Opposition ist, sich nicht gegen die Energiepolitik der Regierungskoalition stelle, antwortete er trocken: «Because this matter is too serious to play politics with it.» (Weil diese Angelegenheit zu ernst ist, um damit politische Ränkespiele zu betreiben).

Quelle

M.Re. aufgrund von Gesprächen während der Medienreise des Nuklearforums nach London im Juli 2011

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