SVA-Medienreise nach Deutschland: Kann Windenergie die Schweizer Kernenergie ersetzen?
Windenergie, aus Offshore-Parks in der deutschen Nordsee, soll die Kernenergie ersetzen, wenn die Schweizer Bevölkerung am Abstimmungswochenende vom 18. Mai 2003 den Ausstieg aus der Kernenergie beschliesst.
Diese Aussage von Gegnern der Kernenergie wird im Vorfeld der Abstimmung oft zitiert - aber könnte die Windenergie die 40% Bandenergie, die die Schweizer Kernkraftwerke produzieren, auch wirklich ersetzen? Um Antworten auf diese Frage zu finden, lud die SVA auf Anfang März 2003 Vertreter der Schweizer Medien zu einer Informationsreise nach Deutschland ein mit dem Ziel, einerseits Windturbinen-Parks vor Ort zu besichtigen, andererseits auch von lokalen Fachleuten genauer über die Möglichkeiten - und die Schwierigkeiten - des Windstroms informiert zu werden. Fast 20 Medienvertreter und 6 Begleiter aus der Schweizer Elektrizitätsbranche nahmen die Einladung an und informierten sich während zweier Tage vor Ort.
In Lehrte bei Hannover, wo die Hauptschaltleitung der E.ON Netz GmbH in Betrieb steht, erläuterten verschiedene Referenten der Firma E.ON, des grössten deutschen Windstrom-Produzenten, die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Windenergienutzung. In Deutschland, so wurde ausgeführt, herrscht momentan ein Windkraft-Boom: Im Jahr 1990 betrug die installierte Windleistung 70 Megawatt (MW), im vergangenen Jahr waren es bereits 12'000 MW. Verzögert hat sich dagegen der Ausbau "offshore", im Meer, wo bisher - aus verschiedenen, unter anderem gewichtigen technischen Gründen - noch keine Anlage erstellt ist. Derzeit werden von den diversen Windstrom-Produzenten rund 4% Energie ins Hochspannungsnetz eingespiesen. Diesen Boom erklärten die deutschen Experten mit der Förderung durch das Erneuerbare-Energien-Ge-setz: Dieses legt fest, dass jeder Netzbetreiber den Windstrom jedes Produzenten privilegiert aufnehmen muss, zudem erhalten die Produzenten dank einer staatlichen Lenkungsabgabe 9 Eurocent (umgerechnet ungefähr 13 Rappen) pro eingespiesene Kilowattstunde. Diese Abnahmepflicht stellt für die Netzbetreiber ein Problem dar: Der Windstrom fällt naturgemäss sehr unregelmässig an, deshalb müssen im Hintergrund fossil befeuerte Ausgleichskraftwerke mit der notwendigen Regelenergie bereit stehen, um den Stromanfall im Netz auf einem gleichmässigen Niveau zu halten. Hanns Bouillon, Leiter der Hauptschaltleitung Lehrte, formulierte die Probleme so: "Der stetig steigende Anteil an aus Windkraft erzeugter Energie und der liberalisierte Strommarkt stellen bereits heute erhebliche Anforderungen an Kraftwerke und Netze. Mit der geplanten Errichtung grosser Offshore-Windparks wird dabei noch einmal eine neue Qualität erreicht werden. Auf mittlere Sicht ist besonders die Betriebsführung der Netze und der Kraftwerke davon betroffen, die erst durch bauliche Massnahmen im Netz und die Neuausrichtung der Kraftwerksparks gelöst werden können. Zusätzliche Transportaufgaben von Windstrom z.B. in die Schweiz sind derzeit nicht ohne zusätzlichen erheblichen Netzausbau realisierbar. Die Genehmigungssituation ist nicht absehbar." Aus Schweizer Sicht präsentierte Martin Pfisterer, Präsident der Juvent SA, der grössten Schweizer Windstromproduzentin, die Situation. Das Windkraftwerk Mont Crosin der Juvent SA ist mit momentan 4160 Kilowatt installierter Leistung aus sechs Turbinen das grösste Werkseiner Art in der Schweiz. Zusammen mit einigen anderen Anlagen trugen die Windkraftwerke der Schweiz im Jahr 2001 rund sechs Millionen Kilowattstunden oder 0,01% zur Schweizer Stromproduktion bei. Pfisterer betrachtet den Windstrom als wertvolle erneuerbare Ergänzungsenergie und als interessantes Nischenprodukt, welches aber auch Nachteile hat: So rechnet man in der Schweiz mit einer jährlichen Betriebsdauer von maximal 1500 Volllaststunden (zum Vergleich: Die Schweizer Kernkraftwerke weisen durchschnittlich über 8000 Volllaststunden aus) und mit einem Produktionspreis von 15 bis 20 Rappen pro Kilowattstunde (Vollkosten, ohne Subventionen). Als Grenzen beim Ausbau der Windenergie in der Schweiz nannte er vorab die Landschaft und die Akzeptanz. Zur Frage des Windstromimports aus der deutschen Nordsee in unser Land zitierte er den grünen deutschen Politiker Wilfried Voigt, Staatssekretär für Energie des deutschen Bundeslandes Schleswig Holstein mit folgender Aussage vom 11. Februar 2003: "Es ist unsinnig, erneuerbare Windenergie von Norddeutschland über die grosse Distanz hinweg in die Schweiz zu transportieren." Pfisterers Fazit: Der Ersatz der Schweizer Kernkraftwerke durch Windstrom ist unrealistisch. Am zweiten Tag der Reise stand ein Besuch im Windenergiepark Westküste in Schleswig-Holstein, nordwestlich von Hamburg, auf dem Programm. In dieser Region wurde unter anderem in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts der berühmte "Growian", eine "grosse Windkraftanlage", gebaut und auch in den folgenden Jahrzehnten wurden hier immer wieder die neuesten (Proto-) Typen von Windkraftwerken errichtet. In dieser Zeit lieferte die zielgerichtete Langzeit-Erprobung unterschiedlicher Systeme verschiedener Hersteller die entscheidenden Betriebserfahrungen, die nötig waren, um die Technik zu verbessern. Die Fachleute lernten, den Wind und seine Kräfte, die mal sehr kräftig und mal sehr schwach sein können, zu verstehen. Dieter Claussen, Referent Windenergiepark Westküste, sprach vor Ort positiv von der Nischenenergie Wind, konnte aber auch klare Vorbehalte nicht verhehlen: Nach seiner Aussage steht Strom aus Windkraftanlagen, wie auch aus anderen additiven Energiequellen, nicht dauerhaft und preiswert zur Verfügung. Wenn grosse Energiemengen nachgefragt werden, muss auch nach seinen Worten ein Backup-System zur Grundversorgung vorgesehen werden. Nur so lasse sich nach dem heutigen Stand der Technologie die Versorgung der Menschen mit Energie zu jeder Tages- und Nachtzeit, jahrein und jahraus, sicherstellen.
Quelle
H.R.