Stromversorgung der Schweiz im Jahre 2050?
Am 5. Juli 2004 legte der Bundesrat einen neuen Gesetzesentwurf für die Öffnung des Elektrizitätsmarkts zur Anpassung an die Europäische Union (EU) vor. Bundesrat Moritz Leuenberger hielt es nicht für tunlich, eine Pressekonferenz einzuberufen, um seine Vision für die Zukunft der Elektrizität vorzustellen. Das Bundesamt für Energie (BFE) hatte indessen eine Vision schon am 2. Juli 2004 im Rahmen des "Forums Energieperspektiven 2035-2050" offenbart: Als Diskussionsbasis gab das BFE die folgenden fünf Thesen zur Frage vor, wie die Produktionskapazität der fünf schweizerischen Kernkraftwerksblöcke, die in den kommenden Jahrzehnten abgeschaltet werden, zu ersetzen ist.
These 1: Der Bau neuer Kernkraftwerke ist zurzeit und wahrscheinlich auch längerfristig gesellschaftlich und politisch nicht durchsetzbar.
Das BFE will - so scheint es - im Namen des Volkes sprechen. Doch dieses hat sich im Mai 2003 zu Gunsten der Option Kernenergie ausgesprochen. Entscheiden wird am Schluss die Zukunft. Meiner Ansicht nach wird die Haltung der Bevölkerung - wie im Jahr 2003 - vom Stand der Landesstromversorgung abhängen: Wenn es nötig ist, wird das Volk einem Neubau zustimmen.
These 2: Die Versorgung soll nicht durch vermehrte Stromimporte, sondern durch die Bereitstellung neuer Produktionskapazitäten in der Schweiz sowie durch eine effiziente Stromverwendung gewährleistet werden.
Hier hört man im Hintergrund die widersprüchliche Sprache jener, die den sofortigen EU-Beitritt der Schweiz wünschen und gleichzeitig das Land verbarrikadieren wollen, indem sie den (nuklearen) Stromimport verhindern! Die Elektrizitätsunternehmen könnten unter diesen Umständen nicht in ausländische Produktionsanlagen investieren. Zwischenfrage: Wenn die Schweiz in der EU ist, ist diese dann immer noch "Ausland"? Das BFE jedenfalls hat gesprochen: Vortritt der einheimischen Erzeugung! Wie es scheint, möchte das westschweizerische Unternehmen EOS das thermische Kraftwerk Chavalon im Unterwallis auf Erdgas umstellen. Für die Spitzenerzeugung ist das Projekt sicherlich wirtschaftlich interessant, wohl weniger für die Grundlastproduktion. Alles wird von der CO2-Abgabe abhängen. Sie könnte für das Gas - das sich sonst seiner ökologischen Vorzüge rühmt - zur schweren Last werden. Oder hegt Bundesrat Leuenberger die Absicht, Chavalon von der CO2-Abgabe zu befreien, um die einheimische Produktion zu fördern?
These 3: Auf dem Weg zu einer vollständigen Versorgung mit erneuerbaren Energieträgern braucht es einen fossilen Zwischenschritt, eine fossile Übergangstechnologie (Gas-Kombi-Kraftwerke). Die daraus entstehenden CO2-Emissionen müssen kompensiert werden (im In- und/oder im Ausland).
Von einer "vollständigen" Versorgung mit Erneuerbaren zu sprechen, entspringt dem Wunschdenken in einer Rede zur der Einweihung einer neuen Solar-Dachanlage. Die BFE-Fachleute sollten eine einfache Rechnung anstellen: Um die jährlich in der Schweiz von den Kernkraftwerken erzeugten 25 Terawattstunden (TWh) elektrische Energie zu ersetzen, wäre der Bau von nicht weniger als 8000 Windkrafteinheiten mit je 2 MW Leistung nötig, die rund 1500 Voll laststunden Produktion im Jahr erbringen. Dies hiesse, zwischen Genf und Basel sowie Verbier und Scuol mindestens alle 100 m eine Windanlage mit einem Durchmesser von fast 100 m aufzustellen. Und bei der Sonnenenergie wären alle Walliser Rebberge zu opfern, um nur schon die Jahresproduktion der beiden Beznau-Blöcke zu ersetzen. Für die Schweizerinnen und Schweizer gehört im Jura und in den Alpen dem Landschaftsschutz der Vorrang. Seien Sie doch seriös, meine Herren im Bern! Die erste These des BFE gilt doch eher hier: "Der Bau neuer Kraftwerke zur Nutzung erneuerbarer Energien im grossen Massstab ist zurzeit und wahrscheinlich auch längerfristig gesellschaftlich und politisch nicht durchsetzbar."
Erdgas ist vielleicht eine Lösung. Aberwo soll die CO2-Freisetzung kompensiert werden? Die Schweiz verfügt nur über wenige Möglichkeiten (Kyoto ist bereits schwierig genug). Darüber hinaus wollen die politischen Freunde von Moritz Leuenberger vom Ersatz im Ausland nichts hören: Statt CO2 durch die Sanierung schmutziger ausländischen Anlagen einzusparen, ziehen sie es vor, die industriellen Produktionskosten in der Schweiz zu erhöhen.
These 4: Damit dieser fossile Zwischenschritt tatsächlich ein Intermezzo bleibt, braucht es verbindliche quantitative Ziele bis zu den Jahren 2020 und 2035 sowie eine entsprechende Förderung der Forschung und der Marktdurchdringung der erneuerbaren Energien und der Technologien für die effiziente Energienutzung.
Das Volk braucht sich sozusagen nur zu fügen: Es darf blindlings die Entwicklung erneuerbarer Energien bezahlen, die in der Schweiz bei der Stromerzeugung nie mehr als eine marginale Rolle spielen werden. (Das BFE scheint die Wichtigkeit des Tourismus im Jura und in den Alpen ebenso zu übersehen wie die soziale Auswirkung eines Kilowattstundenpreises von über 50 Rappen auf die Arbeitsproduktivität).
These 5: Diese Ziele können nur durch ein abgestimmtes Set von freiwilligen Massnahmen, marktwirtschaftlichen Anreizen und gesetzlichen Vorgaben erreicht werden. In Folge der langen Vorlaufzeiten müssen diese baldmöglichst definiert und wirksam werden.
Wie in der vierten These "verbindliche" oder wie hier "freiwillige" Zielsetzungen? Beides geht nicht.
Die BFE-Thesen gleichen einem verzweifelten Versuch, einem Nachhutgefecht gegen die Kernenergie: einerseits der ernsthafte Wille, die Kyoto-Verpflichtungen bezüglich CO2 zu erfüllen, andererseits der Vorschlag, sich der fossilen Energie Erdgas hinzuwenden, um die CO2-freie Kernenergie zu bekämpfen! Das Departement Leuenberger scheint seine energiepolitischen Ziele einzig auf die Opposition seines Vorstehers gegen die Kernenergie auszurichten. Da erlaube ich mir, einen bescheidenen Ratschlag vorzubringen: Lasst doch die Kernenergie in Ruhe! Ihre Zukunft ist auf lange Zeit hinaus gesichert. Richtet die Bemühungen und Fördermittel des Bundes auf die Verminderung der CO2-Emissionen und auf das Energiesparen aus. Mit anderen Worten: Die öffentliche Hand soll sich vorrangig um die Umwelt sowie die Strom nachfrage und den Verbrauch kümmern; die Verantwortung für die Erzeugung sollte der Stromwirtschaft überlassen werden. Der Schweiz wird es so besser gehen.
Ein anderes bezeichnendes Signal ist der BFE-Entwurf für eine Verordnung zum neuen Kernenergiegesetz.
Der Entwurf ist gegenwärtig in der Vernehmlassung, die am 13. August 2004 endet. Der Entwurf enthält zahlreiche Bestimmungen, die dem Geist und manchmal dem Wortlaut des von der Bundesversammlung beschlossenen Gesetzes wie auch des Volksentscheids vom 18. Mai 2003 zuwiderlaufen, die Option Kernenergie offen zu halten. Ebenso stellt der Entwurf mit einer Unzahl übertriebener bürokratischer Hindernisse den vernünftigen Betrieb unserer Kernkraftwerke in Frage.
Dies sind die grössten Mängel:
- a) Die Verordnung lässt das Bestehen zweier Überwachungsbehörden in der Linie zu -der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK) und der Eidgenössischen Kommission für die Sicherheit von Kernanlagen (KSA) -, die seit mehreren Jahren nicht konzertiert handeln. Das führt zu Verwirrung, Doppelspurigkeiten und missbräuchlichen Verwaltungskosten für den Bund sowie für die Betreiber.
- b) Der Entwurf enthält unzählige Bestimmungen, welche die Kraftwerksbetreiber verpflichten, aus dem Stand erläuternde Unterlagen, Bescheinigungen und weitere Expertisen vorzulegen, die weit über die in der Schweiz wie im Ausland geltenden Forderungen hinausgehen. Diese Forderungen komplizieren oder verunmöglichen im Fall des Missbrauchs sogar einen sicheren und wirtschaftlichen Kraftwerksbetrieb. Wir stehen hier kurz vor der Situation, wie sie sich im Fall des Zürcher Stadions eingestellt hat: Die Einsprecher machen von ihrem legitimen Recht Gebrauch, sich gegen einen Verwaltungsentscheid zu wehren, der auf unübersichtlichen und bürokratischen Regelwerken beruht. Das Problem ist nicht der Gebrauch und nicht einmal der Missbrauch des Einspruchrechts. Das Problem ist die Nachlässigkeit der politischen und wirtschaftlichen Kreise, die Gesetze, Verordnungen und Regelwerke zulassen, welche einen solchen Missbrauch erst ermöglichen. Der Entwurf für eine Kernenergieverordnung gehört zu dieser Art gesetzlichen Wildwuchses.
- c) Der Verordnungsentwurf verwendet theoretische wissenschaftliche Begriffe, die nicht in rechtliche Bestimmungen gehören. So sieht er vor, dass eine sehr abstrakte mathematische Unfallwahrscheinlichkeit zu jedem Zeitpunkt die Ausserbetriebnahme eines Kraftwerks erzwingen kann. Diese Wahrscheinlichkeit ist das Ergebnis sehr komplexer Berechnungen und kann sich entsprechend der technischen Entwicklung ändern. Ein solches Vorgehen öffnet bürokratischem Ermessen Tür und Tor.
Mit diesem Modell könnte man gerade so gut die sofortige Ausserbetriebsetzung mehrerer Staudämme in den Alpen erzwingen, wenn die auf Grund von Informationen über ähnliche Staudämme in der ganzen Welt berechnete Wahrscheinlichkeit eines Mauerbruchs einen bestimmten Schwellenwert überschreitet. Doch Kernkraftwerk oder Staudamm, was für die Schweiz zählt ist die Qualität bei der Bauausführung sowie eine gute Instandhaltung der einzelnen Anlagen und nicht willkürlichen Berechnungen oder Interpretationen.
Die SVA wird zum Verordnungsentwurf Stellung nehmen, um den Bundesrat auf die Irrtümer und Unvereinbarkeiten aufmerksam zu machen. Beim heutigen Stand ist der Entwurf untauglich. Tatsache ist, dass die vom BFE vorbereitete Verordnung versucht, was weder Parlament, noch Volk wollten: Stolpersteine und Hindernisse gegen den sicheren und zuverlässigen Betrieb der Kernkraftwerke zu legen.
Quelle
Dr. Bruno Pellaud, Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Atomenergie (SVA)