Präzisionswaage für Atomkerne
Was es auf der Weltkarte längst nicht mehr gibt, vermuten Physiker im Periodensystem der Elemente: eine unentdeckte Insel. Das Periodensystem erweitern die Forscher, indem sie superschwere Elemente, also Elemente, die schwerer sind als Uran, im Labor erzeugen. Doch je schwerer die Atomkerne der neu erzeugten Stoffe sind, desto schneller zerfallen sie, oft innerhalb von Millisekunden. Physiker wollen dennoch immer weiter in das Meer der Instabilität vordringen. Denn sie sind überzeugt, dass es Atomkerne gibt, die schwerer sind als die bislang erzeugten und dennoch stabil. Doch bei der Suche nach der Insel der Stabilität stochern sie im Nebel, denn sie wissen nicht, welche Kombinationen von Protonen- und Neutronenzahl stabile Kerne ermöglichen. Einen Wegweiser im Nebel hat nun eine von der GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung GmbH (GSI) in Darmstadt geführte internationale Kollaboration entwickelt: Eine Präzisionswaage für superschwere Atomkerne erlaubt es, das Suchgebiet einzugrenzen.
«Wenn wir die Insel der Stabilität finden, lernen wir dabei viel über das Wesen der Kräfte, die in Atomkernen wirken, also darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält», erklärt Klaus Blaum, Direktor am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg, der die neue Methode zusammen mit Forschern der GSI sowie mehrerer deutscher Universitäten entwickelt hat. Mit diesem Wissen könne man besser verstehen, wie die schweren Elemente bis zum Uran in Sternen entstanden sind. «Ein Kompass zum Auffinden der Insel der Stabilität ist die präzise Messung der Masse superschwerer Atomkerne», so Blaum.
Wie viel superschwere Atomkerne auf die Waage bringen, möchten Kernphysiker wissen, weil es ihnen sagt, wie stark die Bestandteile des Kerns – Neutronen und Protonen – aneinander gebunden sind. Denn die Masse des Kerns ergibt sich nicht einfach aus der Summe der Massen seiner Bausteine, sondern unterschreitet diese. Das Weniger an Masse entspricht nach Einsteins Formel E = mc2 der Bindungsenergie des Kernes, die bei seiner Bildung freigesetzt wird. Stabilität und Masse hängen also zusammen.
«Je genauer die Massen bestimmt werden können, umso besser», sagt Blaum. Es gebe unterschiedliche Theorien, welche die Insel der Stabilität bei unterschiedlichen Gesamtmassen der Kerne und bei verschiedenen Kombinationen von Neutronen- und Protonenzahl vorhersagen. Die gleichen Theorien sagen auch die Massen instabiler superschwerer Atomkerne voraus, die im Labor bereits routinemässig erzeugt werden. Die Werte unterscheiden sich von Theorie zu Theorie. «Da man nun superschwere Kerne hochpräzise wiegen kann, ist es möglich die Theorien zu testen und zu entscheiden, welche von ihnen falsch sind», so Blaum weiter. Somit werde gewissermassen das Gebiet eingegrenzt, in dem sich die Insel der Stabilität vermutlich befindet.
Bislang konnten Physiker die Massen superschwerer Atomkerne nur indirekt messen, indem sie die beim radioaktiven Zerfall frei werdende Energie und die Massen der leichteren, wägbaren Zerfallsprodukte bestimmten. Durch Addieren der Energien kommen sie dabei auf die Gesamtenergie und somit die Masse des Ausgangskerns. «Doch diese Methode ist sehr ungenau, weil die Energie, die beispielsweise in Form von Anregungsenergie im übrigbleibenden Atomkern steckt, unberücksichtigt bleibt», bemängelt Blaum.
Shiptrap misst Gewichte von Atomkernen ganz exakt
Nun hat die internationale Kollaboration unter Leitung von Michael Block, der an der GSI in Darmstadt forscht, erstmals direkt die Masse eines superschweren Elementes bestimmt. Ihre Präzisionswaage trägt den Namen Shiptrap. Die Forscher haben die Atomkerne einiger Isotope des Elementes Nobelium (Ordnungszahl 102) bis zu zehnmal genauer gemessen, als es mit der indirekten Methode möglich ist. Zum Vergleich: Um einen Menschen mit der gleichen Präzision zu wiegen, müsste man sein Gewicht etwa auf ein Milligramm genau messen. Die Forscher haben geladene Nobelium-Atome (Ionen), die der Teilchenbeschleuniger an der GSI durch Beschuss einer Bleifolie mit Kalziumionen erzeugte und mit einer Geschwindigkeit von einigen Tausenden von Kilometern pro Sekunde ausspuckte, mithilfe einer Gaszelle abgebremst und anschliessend in eine sogenannte Penning-Falle eingeschleust.
Letztere zwingt die Nobelium-Ionen mithilfe elektrischer und magnetischer Kraftfelder auf eine Schraubenbahn, die sich zu einem Ring schliesst wie eine Schlange, die sich in den Schwanz beisst. Für die Kreisbewegung eines Ions auf der Bahn ergeben sich damit zwei Frequenzen: eine für die Bewegung in der Schraube und eine für die Bewegung in dem Ring, den die Schraube formt. Die Summe der beiden Frequenzen der überlagerten Kreisbewegungen hängt über eine simple Formel mit der Masse des Atomkernes zusammen. Die Frequenzsumme bestimmten die Wissenschafter, indem sie in die Penning-Falle elektromagnetische Wellen geeigneter Frequenz einstrahlten. Wenn die Frequenz der Strahlung der Frequenzsumme entspricht, gewinnt das Ion an Bewegungsenergie und erreicht beim Auswurf aus der Falle einen Nachweisdetektor schneller. Dieser Detektor unterscheidet die schnellen von den langsamen Atomkernen und so lässt sich die Frequenzsumme und damit die Masse bestimmen.
Diese Methode war bislang nicht für im Labor künstlich hergestellte superschwere Elemente geeignet. Denn sie benötigt einige 100 Atomkerne des zu wiegenden Elementes innerhalb von wenigen Stunden, weil sie sonst keine präzisen Werte liefert. Teilchenbeschleuniger erzeugen zwar etwa ein Nobelium-Ion pro Sekunde, was im Prinzip ausreicht. Doch beim Abbremsen gingen bislang fast alle Atomkerne verloren, etwa indem sie sich an den Wänden der Zelle festsetzen.
Die Abbremstechnik wurde in den letzten Jahren soweit verbessert, dass rund 2% der Atomkerne in die Penning-Falle gelangen. Dazu verwendeten die Forscher eine Gaszelle gefüllt mit Helium-Gas. Denn die Helium-Atome geben ihre Elektronen nicht an die Nobelium-Ionen ab, sodass diese ihre elektrische Ladung behalten. Ringförmig angeordnete Elektroden erzeugten außerdem ein elektrisches Kraftfeld, das die Ionen von den Wänden der Gaszelle fernhält. Die Kniffe ermöglichten es, rund ein- bis dreihundert Nobelium-Ionen innerhalb weniger Stunden in die Penning-Falle zu schleusen und eine hochpräzise Messung zu machen.
Die Präzisionswaage für superschwere Elemente hat noch ein weiteres wichtiges potenzielles Einsatzgebiet. Mit ihr wird es überhaupt erst möglich, langlebige superschwere Elemente von der Insel der Stabilität nachzuweisen, sollten sie im Labor entstehen. «Bislang werden superschwere Elemente indirekt über ihren radioaktiven Zerfall nachgewiesen», erklärt Blaum. Aber stabile Kerne zerfallen nicht beziehungsweise nur sehr langsam. Deshalb kann man sie auch nur schwer über ihren radioaktiven Zerfall nachweisen.
Sie zu wiegen, wäre ein geeigneter direkter Nachweis. Allerdings geht das mit der aktuellen Version der Präzisionswaage noch nicht. Denn je schwerer die erzeugten Kerne, desto seltener entstehen sie im Teilchenbeschleuniger. Von dem jüngst von der GSI getauften Element Copernicium (Ordnungszahl 112) stellt ein Teilchenbeschleuniger nur etwa ein Partikel pro Woche her.
Weiterer Forschungsbedarf nötig
Derzeit arbeiten die Forscher des Max-Planck-Instituts für Kernphysik um Blaum an zwei Neuerungen, um das Wiegen von Atomen zu ermöglichen, die noch seltener erzeugt werden als das Nobelium. Erstens entwickeln sie zusammen mit Kollegen aus München eine sogenannte kryogene Gaszelle, die bei minus 200 Grad Celsius betrieben werden soll. Bei dieser Kälte ist zwar das Helium noch gasförmig. Aber Wasserdampf, der immer vorhanden ist und viele Nobelium-Ionen elektrisch neutralisiert, sodass sie in der Penning-Falle nicht festgehalten werden können, friert aus und wird so unschädlich gemacht. «Die neue Gaszelle könnte deutlich mehr Ionen für die Messung verfügbar machen als die aktuelle», sagt Blaum. Sie soll noch in diesem Jahr für das Wägen weiterer Kerne eingesetzt werden.
Die zweite Neuerung ist eine weiterentwickelte Version des Nachweissystems der Ionen in der Penning-Falle, die Präzisionswägung mit einem einzigen Atom der zu wiegenden Substanz bewerkstelligen kann. Bei dieser Methode muss das Ion nicht aus der Penning-Falle geschleudert werden, um seine Frequenz zu messen; daher «verbraucht» sie die Ionen nicht. Die Frequenz wird vielmehr durch Messung des winzigen elektrischen Stromes bestimmt, der beim Kreisen des Ions entsteht. «Somit würden sich auch superschwere Ionen wiegen lassen, die nur alle paar Stunden oder Tage entstehen», sagt Blaum und hofft, dass diese Waage in wenigen Jahren fertig sein wird.
Trotz des jetzigen Fortschritts und den vielversprechenden Weiterentwicklungen der Atomwaage wagt Blaum keine Prognose, wann die Insel der Stabilität erreicht werden wird. Die seefahrenden Entdecker vergangener Jahrhunderte hatten es nicht leichter. Dennoch haben sie die Weltkarte nach und nach vervollständigt.
Michael Block et al.: «Direct mass measurements above uranium bridge the gap to the island of stability», Nature, 463, pages 785–788, 11 février 2010, DOI:10.1038/nature08774
Quelle
M.A. nach Max-Planck-Gesellschaft, Medienmitteilung, 10. Februar 2010