Neue russische Studie über Tschernobyl-Folgen
Die russischen Ministerien für Gesundheit, für Zivil-, Notfall- und Naturkatastrophenschutz sowie für Landwirtschaft ziehen gemeinsam Bilanz über die Bewältigung der Folgen von Tschernobyl in der Russischen Föderation.
In einem 46-seitigen Bericht in englischer Sprache unter dem Titel "Chernobyl Accident: Results and Problems in Eliminating Its Consequences in Russia 1986-2000" bestätigen sie die Beurteilung, wie sie kürzlich die Fachwelt zum 15. Jahrestag der Katastrophe an einer Tagung der Internationalen Atomenergie-Organisation vorgenommen hat. Die Bilanz muss demnach auch in den betroffenen Gebieten Russlands weiterhin provisorisch bleiben.
Immerhin ist heute klar, dass die über ein Lebensalter kumulierte Strahlendosis aus natürlichen Quellen wie Radon für den grössten Teil der Bevölkerung um Grössenordnungen über dem Beitrag aus
Tschernobyl liegen wird.
Die lange Zeit ungenügende Information durch die Behörden, die teilweise grob übertriebene Berichterstattung über die möglichen Gesundheitsfolgen und Anzahl Opfer sowie die einseitige Fokussierung auf die Strahlenwirkung haben von zahlreichen anderen, für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Betroffenen mindestens so wichtigen Faktoren abgelenkt, stellt der Bericht fest. Viele medizinische Probleme hätten nichts mit Strahlung zu tun, denn sie seien eine Folge des andauernden Stresses besonders nach Zwangsumsiedlungen und der allgemein desolaten wirtschaftlichen Lage. Im Bericht heisst es dazu: "Die übermässige Ausrichtung auf den Strahlenfaktor führt zu einer Unterschätzung der Risiken anderer Faktoren, zum Beispiel chemischer Stoffe. Der Gehalt radioaktiver Stoffe in der Luft wird regelmässig überwacht und in den letzten Jahren ist in Russland kein Fall einer Grenzwertüberschreitung verzeichnet worden. Zur gleichen Zeit liegen in fast 200 russischen Städten mit einer Gesamtbevölkerung von 64,5 Mio. die Jahresdurchschnittswerte mehrerer chemischer Luftschadstoffe über den zulässigen Höchstwerten. In einigen Fällen erreichen die aufgezeichneten Werte das Zehnfache der Norm. Dennoch werden diese Fälle viel weniger beachtet als die Strahlung... das Jahresrisiko in den am meisten kontaminierten Gebieten, an Strahlenfolgen zu sterben, erreicht etwa 8x10-5... das entsprechende Risiko in Folge chemischer Luftschadstoffe liegt in einigen russischen Städten über 1x10-3, ist also zehn Mal höher. Nach den konservativsten Schätzungen sind möglicherweise jährlich 30'000 vorzeitige Todesfälle auf diese Ursache zurückzuführen. Über 20 Millionen Menschen sind in Russland dem Risiko ausgesetzt, darunter die Bevölkerung Moskaus."
Der Bericht gibt Empfehlungen für die Planung der Massnahmen ab, die in den kommenden zehn Jahren zu treffen sind, um die Folgen von Tschernobyl weiter zu mildern und auch die Lage in den anderen kontaminierten Gebieten Russlands zu verbessern. Genannt werden der Mayak-Komplex und das ehemalige Waffentestgelände Semipalatinsk. Neben der Fortführung von Dekontaminationsarbeiten gehört zu den vorgeschlagenen Massnahmen die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage. Benötigt werden nicht nur grosse finanzielle Mittel. Auch eine Anpassung der Gesetzgebung über den Zivil- und Katastrophenschutz drängt sich laut dem Bericht auf.
Quelle
P.B. nach dem zitierten Bericht und Mitteilungen des International Chernobyl Centre, 11. und 12. Juni 2001