Nationalrat für schrittweisen Kernenergieausstieg der Schweiz
Nach dem Bundesrat hat sich auch der Nationalrat in einer ausserordentlichen Session innerhalb der Sommersession 2011 für einen schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie ausgesprochen. Er hiess drei entsprechende Motionen mit grosser Mehrheit gut. Vorstösse für eine vorzeitige Stilllegung der in Betrieb stehenden Kernkraftwerke blieben chancenlos.
An der ausserordentlichen Session «Kernenergie und alternative Energien» vom 8. Juni 2011 debattierte der Nationalrat in zwei Themenblöcken über den Kernenergieausstieg der Schweiz und über die erneuerbaren Energien. Nach einer gut zwei Stunden dauernden Diskussion lehnte der Nationalrat mit 126 zu 64 Stimmen bei 2 Enthaltungen als erstes einen Ordnungsantrag der Schweizerischen Volkspartei (SVP) ab, der die Abstimmung über die drei parlamentarischen Vorstösse zum Atomausstieg vertagen wollte (Motionen 11.3257 der Grünen Fraktion, 11.3426 der BDP-Fraktion und 11.3436 von Roberto Schmidt, CVP). Die SVP hatte vergeblich verlangt mit der Abstimmung zuzuwarten, bis der Bundesrat Mitte 2012 in seiner angekündigten Vorlage dargelegt habe, wie und mit welchen Massnahmen er die Abschaltung der Kernkraftwerke vornehmen und dabei die Stromversorgung sicherstellen wolle.
Von den 61 in Themenblock 1 traktandierten parlamentarischen Vorstössen zur Kernenergie wurden 27 nicht behandelt, da sie sich erledigt hatten. Sieben Vorstösse nahm der Nationalrat an; die übrigen lehnte er ab. Über die vom Nationalrat angenommenen Motionen muss jetzt der Ständerat entscheiden. Ein Termin steht noch nicht fest.
Angenommene Vorstösse
Motion der Grünen Fraktion «Aus der Atomenergie aussteigen» (11.3257): Diese Motion verlangt, dass der Bundesrat bis im Sommer 2011 ein Szenario für den schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie ausarbeitet (Punkt 1) und darauf aufbauend bis Ende 2011 einen entsprechenden Bundesbeschluss vorlegt (Punkt 2). Punkt 1 wurde mit 108 zu 76 Stimmen bei 9 Enthaltungen angenommen und Punkt 2 mit 117 zu 69 Stimmen bei 9 Enthaltungen abgelehnt. Der Bundesrat hatte die Annahme von Punkt 1 und die Ablehnung von Punkt 2 beantragt. NR Hans Rutschmann (SVP) bekämpfte Punkt 1.
Motion der BDP-Fraktion «Keine neuen Rahmenbewilligungen für den Bau von Atomkraftwerken (11.3426): Art. 12 des Kernenergiegesetzes soll so geändert werden, dass ab 1. Januar 2012 keine Rahmenbewilligungen für neue Kernanlagen zum Zweck der Elektrizitätserzeugung mehr erteilt werden. Die Annahme erfolgte mit 99 Ja- zu 54 Nein-Stimmen bei 37 Enthaltungen. Der Bundesrat hatte die Annahme der Motion beantragt.
Motion von NR Roberto Schmidt (CVP/VS) «Schrittweiser Ausstieg aus der Atomenergie» (11.3436): Schmidt fordert, dass
- keine Rahmenbewilligungen zum Bau neuer Kernkraftwerke erteilt werden
- Kernkraftwerke, die den Sicherheitsvorschriften nicht mehr entsprechen, unverzüglich stillgelegt werden
- Kernkraftwerke, die den Sicherheitsvorschriften entsprechen, weiter betrieben und gestaffelt stillgelegt werden. Der Zeitpunkt der Silllegung wird im Gesetz unter Berücksichtigung des Strombedarfs und der Möglichkeiten alternativer Energiequellen festgelegt.
- die Förderung der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz zielführend verstärkt wird
- Strategien unterbreitet werden, um den künftigen Strombedarf ohne Atomenergie und durch eine vom Ausland möglichst unabhängige Stromversorgung sicherzustellen, ohne den Wirtschaftsstandort Schweiz zu gefährden
Punkte 1, 2, 4 und 5 nahm der Nationalrat mit 101 zu 54 Stimmen bei 36 Enthaltungen an. Der Bundesrat hatte beantragt die Punkte 1, 2, 4 und 5 anzunehmen und den Punkt 3 abzulehnen. Der Motionär zog Punkt 3 deshalb zurück.
Das Postulat der CVP/EVP/glp-Fraktion «Sicherheit der schweizerischen Kernkraftwerke. Überprüfung der Energiepolitik» (11.3115): Das Postulat verlangt vom Bundesrat darzulegen, ob die Sicherheit der Schweizer Kernkraftwerke im Fall von Naturkatastrophen gewährleistet ist, ob allfällige Mängel behoben werden können und unter welchen Voraussetzungen eine Verlängerung der Betriebsbewilligung verantwortbar ist. Der Bundesrat soll zudem aufzeigen, wie die Schweizer Energieversorgung ohne oder mit stark eingeschränkter Nutzung der Kernenergie gewährleistet werden kann und welche Auswirkungen dies auf die CO2-Ziele, die Strompreise und die Versorgungssicherheit hätte. Das Postulat wurde ohne Gegenantrag angenommen, so wie es der Bundesrat beantragt hatte.
Postulat von NR Louis Schelbert (G/LU) «Überprüfung des Informationskonzepts für Katastrophenfälle» (11.3322): Es fordert – gestützt auf die Erfahrungen mit der Kommunikation im Rahmen der Reaktorunfälle in Japan – die Überprüfung des Informationskonzepts für Katastrophenfälle. Es soll gewährleisten, dass die Bevölkerung offen und korrekt, wahrheitsgetreu und objektiv informiert wird. Annahme mit 108 Ja- zu 84 Nein-Stimmen ohne Enthaltung im Widerspruch zum Antrag des Bundesrats.
Motion von NR Louis Schelbert (G/LU) «Überprüfung der Lagerung verbrauchter Brennstäbe» (11.3329): Sie verlangt vom Bundesrat abzuklären, wie sich die Situation bezüglich Lagerung von verbrauchten Brennstäben in Abkühlbecken von Atomkraftwerken in der Schweiz darstellt, und darzulegen, welche Massnahmen zu ergreifen sind. Annahme mit 115 Ja- zu 77 Nein-Stimmen bei 1 Enthaltung entgegen dem Antrag des Bundesrats.
Postulat von NR Daniel Vischer (G/ZH) «Haftungsrisiko des Staates bezüglich Atomkraftwerke» (11.3356): Es verlangt einen Bericht, der das reale Haftungsrisiko des Staates im Fall eines Reaktorunfalls erfasst. Zudem soll aufgezeigt werden, wie das Risiko während der Laufzeit der Kernkraftwerke auf die Betreiber oder Dritte abgewälzt werden kann und ob und gegebenenfalls wie sich der Staat für diese Zeit für das Restrisiko versichern kann. Annahme mit 129 Ja- zu 62 Nein-Stimmen bei 2 Enthaltungen wie vom Bundesrat beantragt.
Abgelehnte Vorstösse zur Ausserbetriebnahme einzelner Kernkraftwerke in der Schweiz
Die Motion von Maja Ingold (CVP/ZH) «AKW. Nach 40 Jahren entscheidet der Bundesrat» (11.3279) wollte, dass nach 40 Betriebsjahren die Betriebsbewilligungen jeweils auf ein Jahr befristet erteilt werden und jährlich erneuert werden. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) sollte alle für die nukleare Sicherheit notwendigen Massnahmen anordnen und die Bewilligung entziehen, wenn ein Kernkraftwerk die Bewilligungsvoraussetzungen nicht oder nicht mehr erfüllt, und das Departement Stilllegung anordnet.
NR Marianne Streiff-Feller (EVP/BE) reichte zwei Motionen ein: «Mühleberg sofort stilllegen» (11.3248) und «Beznau I und II innert 3 Jahren stilllegen» (11.3247).
Die Motion «Mühleberg die unbefristete Betriebsbewilligung entziehen» (11.3264) von NR Franziska Teuscher (G/BE) forderte, dass dem Kernkraftwerk Mühleberg die unbefristete Betriebsbewilligung entzogen und das Kraftwerk umgehend stillgelegt wird. Die Bundesbehörden und die BKW FMB Energie AG sollten zur Offenlegung sämtlicher Unterlagen zur Betriebssicherheit verpflichtet werden. Die Bevölkerung sollte sofort über das Informations- und Evakuationskonzept bei einem Störfall in Mühleberg informiert werden.
Die Motion von NR Ursula Wyss (SP/BE) «Veraltetes AKW Mühleberg sofort vom Netz nehmen» (11.3256) verlangte die sofortige Stilllegung des Kernkraftwerks Mühleberg.
Die Motion «Abschaltung der drei Kernkraftanlagen, die vor 1979 erbaut wurden» (11.3166) von NR Christian van Singer (G/VD) verlangte, dass die drei Kernkraftwerke, die vor 1979 gebaut wurden, ausser Betrieb gesetzt werden, bis eine unabhängige Untersuchung ihre Wiederinbetriebnahme rechtfertigt.
Abgelehnte Vorstösse zum Kernenergieausstieg und zum Beschwerderecht
Die Motion der Grünen Fraktion « Geordneter Ausstieg aus der Atomenergie» (11.3335) forderte die Unterbreitung einer Verfassungsänderung, die den Bau und Betrieb von Kernkraftwerken zur Strom- oder Wärmeproduktion untersagt. Die bestehenden Kernanlagen sollten 40 Jahre nach ihrer Inbetriebnahme definitiv abgeschaltet werden, sofern nicht sicherheitsrelevante Gründe eine frühere Schliessung erforderten. Die Motion wurde am 26. Mai 2011 (am Folgetag des Bundesratsentscheids) zurückgezogen.
Die Motion von NR Geri Müller (G/AG) «Atomfreie Energieversorgung der Schweiz» (11.3258) verlangte die Umsetzung der beiden Szenarien der BFE-Energieperspektiven, die ohne Kernenergie auskommen. Die Kernkraftwerke Mühleberg und Beznau sollten umgehend abgeschaltet werden. Bis zur Sommersession 2011 sollte der Bundesrat ein Szenario für einen geordneten Atomausstieg vorlegen.
Die Motion der SP-Fraktion «Geordnete Beendigung der Kernenergienutzung in der Schweiz» (11.3144) forderte für alle Kernkraftwerke eine maximale zeitliche Betriebsdauer oder Reststrommengen. Zudem sollten neue Kernenergieanlagen nicht mehr bewilligt werden.
Die Motion NR Christian van Singer (G/VD) «Ausweitung des Beschwerderechts im Bereich der Kernkraft» (11.3165) sah vor, dass die Bestimmungen über die Einsprachen, Rekurse und ähnliches angepasst werden, damit diese Instrumente von natürlichen und juristischen Personen ausserhalb des Radius von 30 km um eine betroffene Anlage angewendet werden können.
Quelle
M.A. nach Energieforum Schweiz, Bericht, 8. Juni 2011, amtliches Bulletin und Parlamentarischer Geschäftsdatenbank Curia Vista
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