Mit Antineutrinos Kernreaktoren überwachen
Bei der Überwachung von Kernreaktoren ist die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) in wichtigen Fragen auf die Angaben der Betreiber angewiesen. In Zukunft könnten Antineutrino-Detektoren eine unabhängige Möglichkeit der Überprüfung liefern. Doch bisher fehlte das Antineutrino-Spektrum der Spaltprodukte von U-238. Physiker der Technischen Universität München (TUM) haben diese Lücke mit Hilfe schneller Neutronen aus der Forschungs-Neutronenquelle FRM II geschlossen.
Bei der Spaltung von Kernbrennstoffen wie Plutonium oder Uran werden neben Neutronen auch Antineutrinos frei. Diese sind ebenfalls elektrisch neutral, aber wenig reaktionsfreudig, weshalb sie sich nur mit riesigen Detektoren nachweisen lassen. Inzwischen werden jedoch Detektoren entwickelt, die nur noch die Grösse eines Kubikmeters haben; um Antineutrinos aus einem Reaktorkern zu messen. Prototypen dieser Detektoren existieren bereits und nehmen in einem Abstand von etwa zehn Metern zu Reaktoren Daten auf. Aus der Analyse von Energie und Bildungsrate der Antineutrinos lassen sich Änderungen in der Zusammensetzung der Kernbrennstoffe im Reaktor ermitteln, wie etwa das Entfernen von kernwaffenfähigem Pu-239. Die IAEO wäre damit nicht mehr auf die Aussagen der Reaktorbetreiber angewiesen.
Genaues Antineutrino-Spektrum von Uran-238 bestimmt
Bereits in den 1980er-Jahren wurden die Antineutrino-Spektren von drei der vier Hauptkernbrennstoffe – U-235, Pu-239 und Pu-241 – bestimmt. Bisher fehlte jedoch das genaue Antineutrino-Spektrum des vierten verwendeten Kernbrennstoffes, U-238, der etwa 10% des gesamten Antineutrinoflusses ausmacht. Dieses Spektrum war nur in ungenauen theoretischen Berechnungen abgeschätzt worden und beschränkte somit die Präzision der Antineutrinovorhersagen. Nils Haag am Lehrstuhl für Experimentelle Astroteilchenphysik der TUM entwickelte nun an der Forschungs-Neutronenquelle Heinz-Maier-Leibnitz (FRM II) einen Messaufbau, mit dem er das fehlende Spektrum von U-238 bestimmen konnte. «Ich benötigte einen hohen Fluss von schnellen Neutronen, um das U-238 spalten zu können», sagt der Physiker. Seinen Versuchsaufbau stellte er deshalb an die Radiographie- und Tomographiestation Nectar des FRM II, die schnelle Neutronen zur Verfügung stellt.
Ein zweiter Detektor eliminiert unerwünschte Messsignale
In einer Folie aus U-238 erzeugten die Neutronen Kernspaltungen. Die radioaktiven Zerfallsprodukte emittierten in der Folge Elektronen und Antineutrinos. Die Elektronen wurden mit einem Szintillator untersucht – einem Kunststoffblock, der die kinetische Energie der Elektronen in Licht umwandelt. Dieses übersetzte ein Photomultiplier in elektrische Signale. Bei den Kernzerfällen entsteht aber auch Gammastrahlung, die im Szintillator unerwünschte Messsignale erzeugt. Deswegen platzierte Haag einen zweiten Detektor direkt vor dem Szintillator, eine sogenannte Vieldrahtkammer. Da in diesem Gasdetektor nur geladene Teilchen wie Elektronen ein Signal auslösen, konnte Haag den Anteil der Gammastrahlung bestimmen. Aus der somit Untergrund-freien Messung der Elektronen leitete Haag das Antineutrinospektrum ab.
Methode erlaubt bessere Überwachung von Kernreaktoren
Die Messung des Antineutrinospektrums kann dazu dienen, den Status, die Leistung und sogar die Zusammensetzung von Reaktorkernen zu überwachen. «Unsere Ergebnisse erlauben es nun, mit signifikant höherer Genauigkeit vorauszuberechnen, welches Antineutrinospektrum ein Reaktor mit der vom Betreiber angegebenen Brennstoffzusammensetzung haben müsste», erklärt Nils Haag. «Abweichungen zwischen dem erwarteten Signal des Reaktors und den Messdaten der Antineutrinodetektoren können damit aufgedeckt werden.»
Eingebettet ist die Entwicklung der Methode in die Grundlagenforschung zum Phänomen der «sterilen» Antineutrinos. Aus dem Vergleich bisheriger Messungen und Vorhersagen von Reaktor-Antineutrino-Spektren gab es nämlich Hinweise darauf, dass einige Antineutrinos kurz nach ihrer Produktion «steril» werden. Sie könnten dann nicht mehr mit Materie in Wechselwirkung treten. Ein besseres Verständnis dieser Effekte würde das Wissen über die elementaren physikalischen Prozesse erweitern, gibt die TUM zu bedenken.
Quelle
D.S. nach TUM, Medienmitteilung, 24. April 2014