Kernenergie in Europa

Ansprache von Dr. Walter Hohlefelder, Mitglied des Vorstandes der E.ON Energie AG, anlässlich der Generalversammlung der SVA vom 28. August 2001 in Bern

27. Aug. 2001

Ich freue mich, heute nicht nur zu, sondern mit Ihnen über die Zukunft der Kernenergie in Europa zu sprechen. Leider krankt die Kernenergiedebatte häufig an einer verengten nationalen Sichtweise. Grosse Herausforderungen wie der Klimaschutz oder die künftige Primärenergieversorgung Europas, der zusammenwachsende Energiebinnenmarkt und nicht zuletzt die fortschreitende Internationalisierung der Hersteller- und Betreiberunternehmen zeigen jedoch, dass wir Kernenergie mindestens europäisch, wenn nicht sogar global betrachten müssen. Es gilt, den Blick über den nationalen Tellerrand zu heben und gerade deshalb freue ich mich, heute hier bei Ihnen in Bern sein zu dürfen.
Wie Sie wissen, haben die deutschen Betreiber mit der Bundesregierung am 11. Juni dieses Jahres eine Vereinbarung zur künftigen Nutzung der Kernenergie unterzeichnet. Ich werde auf diese Übereinkunft im Verlauf meines Vortrages noch eingehen. Nur soviel vorweg: Die Vereinbarung ist nicht das Sterbeglöcklein der deutschen Kernenergie. Wir haben eine Vereinbarung über den Betrieb der bestehenden Kernkraftwerke getroffen. Über die Zukunft der Kernenergie haben deutsche Bundesregierung und Stromwirtschaft nach wie vor unterschiedliche Auffassungen. Auch wenn die Regierung Schröder vor drei Jahren mit dem Ziel eines "unumkehrbaren Ausstiegs" angetreten ist, gilt weiterhin der Satz von Karl Popper: "Die Zukunft ist offen" - auch für die Kernenergie in Deutschland.

Bestandsaufnahme
Meine Damen und Herren, beginnen wir mit einer Bestandsaufnahme. In diesem Jahr feiert die friedliche Nutzung der Kernkraft ihren 50. Geburtstag. Am 20. Dezember 1951 nahm der erste Versuchsreaktor - der Experimental Breeder Reactor I - im amerikanischen Idaho seinen Testbetrieb auf. Der Optimismus und die Aufbruchstimmung der 50er- und 60er-Jahre, als von der Spaltung des Atoms nicht weniger als die Lösung aller künftigen Energiefragen - sogar mehr: "Atoms for Peace" war das Stichwort - erwartet wurde, sind längst verflogen. Aber auch der Eindruck eines langsamen aber stetigen Niedergangs der Kernenergie, der vor allem nach Harrisburg und Tschernobyl in den westlichen Industriestaaten entstehen konnte, ist dabei zu verblassen. Auch wenn sich die Bonner Klimakonferenz im vergangenen Monat gegen die Berücksichtigung von Kernkraftwerken im Rahmen von Massnahmen zur Joint Implementation bzw. des Clean Development Mechanismus ausgesprochen hat, bin ich überzeugt, dass die unter den Überschriften Klimaschutz und Versorgungssicherheit begonnene Diskussion über eine Renaissance der Kernenergie weitergehen wird. Denn, es ist wirklich bemerkenswert, erstmals nach ungefähr 15 Jahren kommt die Kernenergie wieder in eine positive öffentliche Diskussion, und das ist wahrlich ein gutes Zeichen, und für alle die, die nun über Jahre in dieser permanenten Defensiv-Diskussion gestanden haben, in einer Abwehrdiskussion, ist es erleichternd und ermutigend, und es hat auch wirklich persönlich sehr positive Effekte.
Es sollte nicht übersehen werden, dass die in Bonn ausgesprochene Empfehlung gegen die Berücksichtigung der Kernenergie bei den flexiblen Mechanismen deutlich hinter frühere Forderungen nach einem kategorischen Ausschluss der Kernenergie durch eine "Negativ-Liste" zurückfällt. Wenn wir uns das Klimaschutzpotenzial der Kernenergie vor Augen führen - allein in der EU vermeidet die Kernenergie rund 800 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr, was in etwa den gesamten Emissionen des europäischen Strassenverkehrs entspricht -, wenn wir weiterhin mit den führenden Klimaforschern davon ausgehen, dass für die Eindämmung des Treibhauseffektes die anthropogenen CO2-Emissionen um bis zu 80% reduziert werden müssten - bei gleichzeitig rapide wachsendem Energiebedarf in den Entwicklungs- und Schwellenländern -, dann gehört wenig Phantasie zu der Erkenntnis, dass zum Thema Kernenergie und Klimaschutz im Rahmen des Kyoto-Prozesses mit Sicherheit noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.
Dass die Kernenergie keineswegs am Ende steht, belegen im übrigen nüchterne Fakten: Im vergangenen Jahr stieg die Anzahl der Kernkraftwerksblöcke weltweit von 441 auf 444, die installierte Nettoleistung erhöhte sich auf 356 GWe. Mit rund 2450 TWh erreichte die Kernenergie einen Anteil von immerhin 17% an der globalen Stromerzeugung. Im vergangenen Jahr befanden sich 34 Kernkraftwerke im Bau. Auch in Zukunft ist deshalb von einem weiteren Anstieg der Stromerzeugung in Kernkraftwerken auszugehen. Massgeblich ist vor allem der Ausbau in Asien. Indien will bis 2010 14 Reaktoren in Betrieb nehmen, in China und Japan sind je 13 Anlagen geplant bzw. im Bau, und Südkorea wird im Rahmen seines Kraftwerksprogramms 4 neue Anlagen errichten. Also eine sehr positive Entwicklung, aber ich sage auch dazu: Wir sitzen auch mit den Anlagen in Pakistan, in China, in Indien politisch, wenn Sie so wollen, in einem Boot. Wenn dort etwas schief geht, dann haben wir das hier zu ertragen, und deswegen sehe ich auch diese Zahlen auf der einen Seite durchaus positiv, auf der andern Seite bewegen sie mich auch vor dem Hintergrund der Frage: Wird hier auch genug für die Sicherheit getan?
Die rasante Entwicklung in Asien steht im Kontrast zur Stagnation der Kernenergie in den westlichen Industriestaaten. Wenn wir von Osteuropa sowie Einzelprojekten wie dem geplanten Kraftwerk der TVO in Finnland und Überlegungen zum EPR (European Pressurized Water Reactor) absehen, verharrt die Kernenergienutzung in der EU weitgehend auf dem erreichten Niveau. Die politischen Signale sind zudem widersprüchlich: Die Regierungen Deutschlands und Belgiens haben sich den Ausstieg auf die Fahne geschrieben - vielleicht schon ein gewisser Anachronismus angesichts der weltweiten Stimmungslage - Schweden revidiert angesichts der Folgeprobleme für Klimaschutz und Versorgungssicherheit die Stilllegungspläne für Barsebäck-2 und die britische Regierung beginnt über den Neubau von Kernkraftwerken zum Ersatz der nun wirklich alten Magnox-Reaktoren nachzudenken.
Auch hier in der Schweiz erscheint das Bild für den ausländischen Betrachter widersprüchlich. Einerseits wurden die kernenergiekritischen Referenden des vergangenen Jahres erfolgreich bestanden. Bei der Novellierung des Schweizer Atomrechts sollen die Kraftwerkslaufzeiten ausdrücklich nicht begrenzt werden. Andererseits strebt die Schweizer Regierung den Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung an und das Verhalten der Schweiz bei der Welt-Klimakonferenz ist ja eben bereits angesprochen worden.

Konsequenzen des Stromwettbewerbs
Wohin geht also die Reise der Kernenergie in Europa? Wichtig ist zunächst die Feststellung, dass die Zukunft der Kernenergie im Zeichen liberalisierter Strommärkte nicht nur von politischen, sondern zunehmend von wirtschaftlichen Faktoren bestimmt wird. Es geht zwar auch um gesellschaftliche Akzeptanz, das ist ohnehin eine relative Grösse, die sich schnell verändern kann; vor allem aber geht es um die Erreichbarkeit von Zielrenditen für künftige Investitionen. Schliesslich bauen und betreiben wir als Unternehmen unsere Kernkraftwerke nicht um ihrer selbst willen, sondern um kostengünstig Strom zu produzieren. Eine schlichte Tatsache, die in der Hitze des Gefechts sowohl von den Kernenergiefreunden wie auch von Kernenergiegegnern gelegentlich vergessen wird.
Dass der Neubau von Kernkraftwerken in Westeuropa gegenwärtig kein Thema ist, ist vor allem Konsequenz des europäischen Stromwettbewerbs. Schätzungen der Deutschen Verbundgesellschaft gehen davon aus, dass in Europa derzeit Überkapazitäten von 40'000 MW bestehen - "stranded investments". Dies führt dazu, dass produzierte Strommengen kaum kostendeckend im Markt unterzubringen sind. In Deutschland haben wir den Wandel vom Monopol zum Wettbewerb besonders drastisch erlebt, waren allerdings zum Teil auch selber schuld. Nach vollständiger und übergangsloser Öffnung des Strommarktes im Frühjahr 1998 - ein historisch und international übrigens beispielloser Vorgang - sanken die Strompreise bis Mitte letzten Jahres im Mittel um 25% und in der Spitze um bis zu 60%. Im Commoditygeschäft Strom findet Wettbewerb auf Basis kurzfristiger variabler Kosten statt. Eine Deckung der Vollkosten ist bei grossen freien Kapazitäten daher kaum möglich. Einziger Weg, die Erzeugung in die Rentabilität zurückzuführen, sind deutliche Kapazitätsbereinigungen. Mit der Ankündigung, 4900 MW stillzulegen - wir haben nicht nur angekündigt, wir habens auch getan -, hat E.ON Energie für Deutschland im vergangenen Herbst den Startschuss gegeben. Mittlerweile ist glücklicherweise eine Konsolidierung der Grosshandelspreise erkennbar. Aber auch in den anderen Ländern der EU gilt, dass Anlagen, die im Wettbewerb nicht zu halten sind, über kurz oder lang vom Netz gehen müssen. Dies gilt, das sag ich ganz klar, auch für Kernkraftwerke. Eine Aussage, die nur sehr schwer sowohl intern als auch extern zu vermitteln gewesen ist. Und dies - nur der wirtschaftliche Aspekt - ist auch die einzige Begründung dafür, warum das Stilllegungsprogramm der E.ON Energie auch das Kernkraftwerk Stade eingeschlossen hat, unser ältestes und kleinstes Kraftwerk, das obendrein noch mit dem niedersächsischen Wasserpfennig belastet war. Also: eine wirtschaftliche und keine politische Entscheidung, obwohl es gerne von der deutschen Politik so gesehen wird.
Gegen einen Neubau von Kernkraftwerken spricht nicht nur die vorhandene Überkapazität, sondern sprechen derzeit auch die hohen Kapitalkosten. Unsicherheiten über die künftige Strompreisentwicklung, die hohe Volatilität der Preise, kurzfristige Renditeerwartungen der Anleger und die Wechselhaftigkeit der energiepolitischen Rahmenbedingungen führen notwendig zur Favorisierung kurzer Investitionszyklen, und das ist ja nun bei einem Kernkraftwerk gerade nicht gegeben.
Im Ergebnis bedeutet dies, dass ein positives politisch-rechtliches Umfeld zwar eine notwendige, im Wettbewerb aber noch lange keine hinreichende Bedingung für Bau und Betrieb von Kernkraftwerken ist.

Exkurs: Kernenergievereinbarung vom 14.6.2001
Diese Feststellung ist wichtig, wenn wir die deutsche Vereinbarung zur Kernenergie richtig verstehen wollen. So wenig sich für E.ON Energie oder unsere deutschen Konkurrenten derzeit die Frage neuer Kernkraftwerke stellt, so klar ist, dass die Erzeugungskosten der bestehenden und weitgehend abgeschriebenen Anlagen - sieht man von Ausnahmen wie Stade einmal ab - deutlich unter den Kosten vergleichbarer Kohleblöcke liegen. Im internen Erzeugungswettbewerb liegen unsere Kernkraftwerke eindeutig an der Spitze. Unsere Kernkraftwerke sind daher ganz entscheidende Assets, um im europäischen Erzeugerwettbewerb zu bestehen. Und das ist das für uns ausschlaggebende Motiv, mit der Bundesregierung die Vereinbarung zur Kernenergie zu suchen. Wir wollten für die bestehenden Kernkraftwerke ein Höchstmass an "politischer Betriebssicherheit" erreichen, weil eben Betriebssicherheit, ungestörter Betrieb, auch hohe Wirtschaftlichkeit und damit auch Wettbewerbsfähigkeit bedeutet.

In der Sache beinhaltet die Vereinbarung einen pragmatischen Kompromiss. Die Betreiber akzeptieren die zeitliche Begrenzung des ursprünglich unbefristet genehmigten Anlagenbetriebs durch Vereinbarung von Strommengenkontingenten. Diese Kontingente reichen bis in die 20er-Jahre dieses Jahrhunderts. Sie sind zudem zwischen den Anlagen übertragbar und ermöglichen damit einen betriebswirtschaftlich optimierten Kraftwerkseinsatz. Die Bundesregierung gewährleistet im Gegenzug den politisch ungestörten Anlagenbetrieb. Sie hat ausdrücklich anerkannt - das mag für Sie selbstverständlich erscheinen, aber wenn Sie sich einmal die Koalitionsvereinbarungen von vor zwei Jahren von Rot-Grün ansehen, dann sehen Sie, was sich hier verändert hat - sie hat also bestätigt,

  • dass die deutschen Kernkraftwerke "auf einem international gesehen hohen Sicherheitsniveau betrieben werden",
  • dass sie (ganz besonders wichtig) "keine Initiative ergreifen wird, um diesen Sicherheitsstandard und die diesem zugrundeliegende Sicherheitsphilosophie zu ändern", und sie hat sich verpflichtet,
  • die Kernenergie nicht durch einseitige Massnahmen - auch solche fiskalischer Art - zu diskriminieren.

Dieser Kompromiss ist das Ergebnis einer nüchternen Analyse der Kräfteverhältnisse. Einer starken, allerdings nur über sehr lange Zeiträume und schwierig durchsetzbaren grundrechtlichen Position der Betreiber und Eigentümer stand das de facto vorhandene "Dauer-Störpotenzial" der Politik gegenüber, die durch administrative und legislative Verstopfungs-, Behinderungs- und Verteuerungsstrategien die Wirtschaftlichkeit unserer Kraftwerke zu gefährden drohte.
Die Vereinbarung ist also nicht das, wofür sie häufig gehalten wird oder wie sie häufig apostrophiert wird:

  • Sie ist kein "energiepolitischer Gesellschaftsvertrag". Die Parteien der Vereinbarung - Regierung und Unternehmen - hatten weder die Intention noch das Mandat, Richtlinien deutscher Energiepolitik festzulegen. Insoweit unterscheiden sich die Verhandlungen grundlegend von den Konsensgesprächen der 90er-Jahre, die einen ganz umfassenden energiepolitischen Ansatz hatten.
  • Die Vereinbarung ist auch kein "Ausstiegskonsens", wie viele Berichterstattungen in den Medien suggerieren. Sie betrifft neben Entsorgungsfragen ausschliesslich den Betrieb der bestehenden Kernkraftwerke in Deutschland. Die Absicht der Bundesregierung, keine neuen Kernkraftwerke zu genehmigen, wird von den Betreibern "zur Kenntnis genommen". In der grundsätzlichen Bewertung der Kernenergie bleibt die Position der Unternehmen unverändert. Der Konsens mit der Bundesregierung lautet hier - wenn Sie so wollen: "We agree to disagree".

Diese Verständigung in Deutschland ist unter den ganz spezifischen Randbedingungen in der deutschen politischen Situation - Stichwort: rotgrüne Koalition, vorlaufende Parteitagsbeschlüsse, Koalitionsvereinbarungen - zu Stande gekommen. Deswegen ist es auch eine spezifisch deutsche Regelung, und ich werde mich davor hüten, irgendjemand ausserhalb Deutschlands vorzuschlagen, diese Regelung nun unbedingt übernehmen zu wollen. Insofern muss also nun wirklich die Welt nicht am deutschen Leben genesen. Wir können mit der Verständigung mal gerade leben, aber es muss nicht so sein, dass unsere Nachbarn auch in die Situation kommen müssten, in der Kernenergiefrage mit einem irgendwie gearteten Konsens mal gerade leben zu können. Das sag ich auch im Hinblick darauf, dass ich gehört habe, dass gelegentlich Politiker aus Deutschland meinen, vorschlagen zu müssen, solche politischen Kompromisse zu übertragen. Wir kommen damit zurecht, aber das ist nicht das Modell für Europa.
Die Unterscheidung zwischen pragmatischem Kompromiss auf der einen Seite und Grundsatztreue auf der anderen wird von uns in Deutschland bewusst gelebt:

  • Die Inhalte der Vereinbarung vom vergangenen Juni werden von uns nicht einseitig in Frage gestellt. Im Gegenteil: Bereits vor der Unterzeichnung im Juni haben wir mit der Bilanzierung unserer produzierten Strommengen begonnen, um unseren Verpflichtungen bezüglich der Restlaufzeiten nachzukommen. Die atom- und baurechtlichen Anträge zur Genehmigung der Standortzwischenlager sind eingereicht und die Verfahren teilweise bereits weit fortgeschritten. Auch die Regierungsseite hat - wenn auch nach vielen Verzögerungen - mittlerweile die Wiederaufnahme der Brennelementtransporte ermöglicht. Und an dieser Stelle ist ziemliche Ruhe eingekehrt, man sieht gelegentlich nochmal Bilder von Castor-Transporten, aber die Demonstranten kann man auf diesen Bildern suchen - mehr Journalisten als Demonstranten. Neulich habe ich eine Überschrift in der Zeitung gelesen, die lautete: "Castor-Transporte - na und?" Da hat sich also schon einiges getan. Und ich kann noch beifügen, wenn ich mir einmal die Revisionszeiten unserer Kernkraftwerke vor Augen führe: Sie waren noch nie so kurz wie in den letzten Monaten, was zeigt, die Obstruktion hat nachgelassen. Es gibt nur noch das nördlichste Bundesland, so etwas wie das "kleine gallische Dorf", das noch versucht, etwas Probleme zu machen, aber im Prinzip läuft das sehr gut. Die Atomgesetznovelle der Bundesregierung liegt in der Zwischenzeit vor, sie geht jetzt in die parlamentarische Beratung - sie ist intensiv (ein Vorgang, wie es ihn in Deutschland noch nie gegeben hat) mit uns beraten worden, bis in die Begründung hinein auf Punkt und Komma, und dadurch ist sie am Ende auch verständigungskonform geworden.
  • In der energiepolitischen Einschätzung der Kernenergie machen wir aus unserem Herzen keine Mördergrube. Im übrigen ist klar, nichts ist unumkehrbar, künftigen Bundesregierungen ist es unbenommen, auch in der zukünftigen Bewertung der Kernenergie zu anderen und neuen Erkenntnissen zu gelangen.


Ausblick
Wenn wir also den Blick in die Zukunft richten, dann gibt es durchaus Anlass zu Optimismus. Ich bin kein Prophet und auch kein besonderer Freund langfristiger Energieprognosen. Die sind in der Regel nur insoweit verlässlich, als ihre konkreten Voraussagen im Detail mit Sicherheit nicht eintreffen werden. Ich bin auch der Meinung, dass wir uns nicht in Zweckoptimismus üben sollten. Gleichwohl: Es gibt gute Gründe, die aus heutiger Sicht für eine Renaissance der Kernenergie auch auf dem alten Kontinent sprechen.

  1. Die Dynamik des Stromwettbewerbs wird noch in diesem Jahrzehnt zur vollständigen Öffnung der europäischen Strommärkte führen. Während die Strommarktrichtlinie von 1997 einen Marktöffnungsgrad von mindestens 33% im Jahr 2003 fordert, haben wir in der EU bereits heute rund 70% Marktöffnung erreicht. Die Vollendung des Energiebinnenmarktes kann durch den Widerstand einzelner Mitgliedstaaten allenfalls verzögert, nicht jedoch aufgehalten werden. Dies bedeutet aber in der Konsequenz, dass die derzeit bestehenden Überkapazitäten in Europa bereits in wenigen Jahren abgebaut sein werden, und die Erfahrung zeigt, der Weg im Wettbewerb von der Überkapazität zur Verknappung ist manchmal viel schneller, als viele denken und merken.
  2. Aufgrund der Altersstruktur des existierenden Kraftwerksparks stehen im kommenden Jahrzehnt Entscheidungen zu Kraftwerksneubauten an. In den Jahren 2010 bis 2020 werden voraussichtlich 60% der bestehenden Kraftwerkskapazität in Europa zu erneuern sein. Zwar drängen neue Kapazitäten auf den Markt - Stichwort "dezentrale Stromerzeugung". Der anhaltende Zubau von regenerativen Erzeugungsanlagen, der verstärkte Einsatz von Brennstoffzellen ab dem Ende dieses Jahrzehnts und auch ein möglicher "dash for gas" dürften den notwendigen Kapazitätsersatz im Grundlastbereich aber kaum abdecken. Die Beispiele USA, Grossbritannien, Kanada (Wiederinbetriebnahme von Bruce A) oder auch Brasilien (voraussichtlicher Weiterbau von Angra 3) zeigen zudem, dass bei akuter oder absehbarer Verknappung der Stromerzeugung das Thema Kernenergie mit neuer Offenheit diskutiert wird.
  3. Neue und erheblich kostengünstigere Kernkraftwerkstechnologien stehen bereit oder befinden sich in der Entwicklung. Hier geht es durchaus um qualitative Sprünge. Zu nennen sind: der EPR, der SWR (Siedewasserreaktor) 1000, der südafrikanische Hochtemperaturreaktor (PBMR) sowie die Reaktorlinien der vierten Generation in den USA. Gleichzeitig wächst das mögliche Einsatzspektrum der Kraftwerke: von Grossanlagen wie dem EPR mit 1800 MW bis zu kleineren Leistungsgrössen von wenigen hundert MW beim PBMR.
  4. Gegenwärtig entstehen in Europa grosse Versorgungsunternehmen, die willens und in der Lage sind, langfristige Investitionen zu tätigen. Neben der grösseren Finanzkraft ermöglicht die europäische bzw. globale Ausrichtung dieser Unternehmen zudem eine grössere Unabhängigkeit von nationalen Energiepolitiken. Kurzum, die unternehmerischen Spielräume für Investitionen im Bereich der Kernenergie werden grösser.
  5. Ein positiver Trend für die Kernenergie zeichnet sich auch im Wettbewerb mit anderen Primärenergieträgern ab. Die wachsende Importabhängigkeit Europas bei Öl und Gas, die Konzentration der Erdgasreserven auf wenige Länder bei gleichzeitig erheblich steigender Gasnachfrage sowie die Konzentration der Anbieter im internationalen Kohlehandel weisen langfristig auf steigende Bezugspreise. Hinzu kommt die politisch angestrebte Internalisierung externer Kosten. Vieles spricht dafür, dass die Klimadiskussion in den Industrieländern zu einer Pönalisierung der Stromerzeugung aus fossilen Energieträgern führen wird - wenn das nicht gleichzeitig eine Begünstigung der Kernenergie wäre, wäre das in Deutschland schon längstens geschehen.

Unstreitig ist, dass Langfristinvestitionen in Kernkraftwerke nicht nur Zielrenditen erfüllen müssen, sondern politischer Investitionssicherheit bedürfen. Aber auch hier gibt es positive Signale. Ich bin überzeugt, dass gute Chancen für eine Entideologisierung der gesellschaftlichen Debatte bestehen, die in der Folge eine rationalere Kernenergiepolitik der Regierungen ermöglicht. Wir sehen heute, dass das Ende des Kalten Krieges in vielen Ländern die harten ideologischen Konflikte entschärft und neuen politischen Pragmatismus ermöglicht. Denken Sie nur an die Wirtschaftspolitik von "New Labour" oder den Wandel der deutschen Grünen in der Aussen- und Sicherheitspolitik. In Grossbritannien und den USA sind Diskussionen über einen Kernenergieausbau bereits heute wieder möglich. Der neue Pragmatismus bietet zudem die Chance für eine inhaltliche Annäherung der nationalen Debatten zur Kernenergie in Europa. Das Grünbuch der EU-Kommission zur Versorgungssicherheit mit seinen allerdings vorsichtigen, aber positiven Äusserungen zur Kernenergie weist bereits in diese Richtung. Für mein eigenes Land gilt, dass auch die Vereinbarung zur Kernenergie die Rückkehr zum rationalen Diskurs erleichtert. Es mag ja vielleicht ein Paradoxon sein, aber nur durch die Beruhigung der Kernenergiediskussion haben wir auch eine Chance, in der Kernenergie wieder einen neuen, vernünftigen Diskussionsansatz zur Fortentwicklung zu finden. Solange wir in der ideologischen wechselseitigen Verhärtung in den Schützengräben verbleiben, haben wir auch keine Chance, die Diskussion im Hinblick auf Neubau etc. wieder zu befördern. Wir müssen erst mal zur Ruhe kommen und auf diesem Wege sind wir im Moment. Die weitere Nutzung unserer Kernkraftwerke ist von der rot-grünen Koalition sozusagen "regierungsamtlich" legitimiert. Gleichzeitig haben diejenigen, die noch vor drei Jahren den Sofortausstieg zur nationalen Überlebensfrage erklärten, heute aber mit 32-jährigen Laufzeiten leben können, ein massives Glaubwürdigkeitsproblem. Die Apokalyptiker der Kernenergie stossen heute vor dem Hintergrund des Kernenergiekompromisses in Deutschland auf zunehmendes Unverständnis.
Mit Blick auf die Klimaschutzfrage meinte daher der deutsche Wirtschaftsminister Müller, der gelegentlich für provozierende Äusserungen bekannt ist: "Es ist gut möglich, dass die ökologische Bewegung zu einer grundsätzlichen Neubewertung der Energiepolitik gelangt und in einiger Zeit den Einsatz der Kernenergie fordern wird."

Ob es tatsächlich so weit kommt, wird nicht zuletzt von der Entwicklung in den USA abhängen. Dort stehen die Entscheidungen zur Kraftwerksparkerneuerung früher an als in Europa. Vor 50 Jahren begann in Amerika der Aufbruch ins Kernenergiezeitalter, vor 22 Jahren schien der Unfall von TMI den Niedergang der Kernenergie einzuläuten. Der Cheney-Report mit seinen Empfehlungen für einen Ausbau der Kernenergie einschliesslich Wiederaufarbeitung, für die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren und für eine verstärkte Forschungsförderung könnte ein neues Signal zum Aufbruch sein. Ich sage allerdings hier auch dazu: Wenn sich das am Ende auf schlichte "Life-Extension" beschränkt, dann wird es nicht den notwendigen Impuls bringen. Den notwendigen Impuls werden wir nur bekommen, wenn auch auf der Welt, und zwar in einem der westlichen Industriestaaten, wirklich wieder neu gebaut wird. Ausserdem: Life-Extension ohne Neubau ist eine etwas kritische Veranstaltung.

Gebote der Stunde: Bestandssicherung
Was folgt aus alledem? Das Gebot der Stunde lautet zunächst und zuallererst, die bestehenden Anlagen sicher, wirtschaftlich und möglichst ohne politische Begleitmusik zu betreiben, d.h. so normal wie möglich im Vergleich zu anderen Erzeugungsarten. Zwei Aufgaben stehen dabei im Vordergrund: Zum einen gilt es, die Wirtschaftlichkeit der Anlagen im Wettbewerb - insbesondere im Erzeugungswettbewerb - weiter zu steigern; zum anderen stehen wir vor der Herausforderung, die kerntechnische Infrastruktur zu sichern und das vorhandene Know-how zu erhalten.
Angesichts der gegenwärtigen Stagnation der Kernenergie in Europa und entsprechend unbefriedigender Auftragslagen der Hersteller- und Zulieferindustrie muss Bestands- und Kompetenzsicherung vor allem im europäischen bzw. globalen Rahmen erfolgen. Die Fusion von Siemens KWU und Framatome ist insoweit ein logischer Schritt. Ich sehe allerdings mit Sorge, dass trotz der Gründung von Framatome ANP im Bereich der Anlagenhersteller die Gefahr besteht, dass in Kerngebieten gravierende Kompetenzlücken auf uns zukommen werden. Dies betrifft insbesondere die Themen Kerninstrumentierung, Reaktorschutz, Steuerstabantriebe, Reaktordruckbehältereinbauten und Notkühlanalysen. Ich will damit sagen, der Begriff "Know-how-Verlust" ist so ein Totschlags- und Pauschalargument; man muss sich schon die Mühe machen, einmal genau hinzugucken, wo und an welchen Stellen entsteht Know-how-Verlust, um wirksam einzutreten, und das sind wesentliche Dinge, um die wir uns hier kümmern müssen. In einigen Fachgebieten hat der Anlagenhersteller die Personalstärke bereits auf die kritische Kompetenzstärke reduziert. Die Auftragsdeckung reicht dennoch nicht aus, diese Mindeststärke langfristig aufrecht zu erhalten. Wir verhandeln daher zur Zeit mit der Herstellerindustrie über eine langfristige Investitionsplanung, um einen Abbau von Spezialisten in kritischen Know-how-Disziplinen aufgrund fehlender Auslastung zu vermeiden. Die Aufgabe des Know-how-Erhalts ist also zu einem grossen Teil auch in unserer eigenen Hand als Stromproduzenten. Zur Zukunftssicherung gehört deshalb auch, dass sich die deutschen Betreiber auch weiterhin bei der Entwicklung des EPR und des SWR 1000 engagieren. Wir können nicht sagen, wir wollen die Option der Kernenergie offen halten, wir wollen Know-how erhalten - und dann verabschieden wir uns aus zukünftigen Projekten. Aber, nebenbei bemerkt, auch in Deutschland, innerhalb der Betreiber, eine nicht ganz einfache Position und Diskussion. Weitere Handlungsfelder sind die Fortentwicklung der kerntechnischen Regelwerke und die Entwicklung international harmonisierter Sicherheitsstandards für künftige Reaktorlinien.
Nicht lautstarker Streit um die Kernenergie, sondern Bestands- und Kompetenzsicherung in aller Ruhe und Gelassenheit sind der Boden, auf dem eines Tages auch eine Renaissance der Kernenergie wieder möglich ist. Besondere Bedeutung kommt dabei auch unserem Verhalten als Branche in der Öffentlichkeit zu. Es liegt an uns, mitzuhelfen, ein kernenergiefreundliches Klima in der Gesellschaft zu befördern - nicht durch grosse Kampagnen oder gigantische Marketingetats, wohl aber durch seriöse Informationsangebote, durch Offenheit gegenüber den Kritikern der Kernenergie und durch ein Höchstmass an Transparenz. Die Art und Weise, mit der im vergangenen Jahr der erste Schweizer Brennelementtransport vom Kernkraftwerk Gösgen nach La Hague durchgeführt und gegenüber Medien und Öffentlichkeit kommuniziert wurde, ist hierfür beispielgebend.

Meine Damen und Herren,
ob wir in einigen Jahren über den bevorstehenden Neubau von Reaktoren in Westeuropa sprechen werden, vermag ich nicht zu sagen. Die Zukunft ist, wie gesagt, offen. Ich bin aber überzeugt, dass die Zeit eher für als gegen die Kernenergie spielt.

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