Japan: teure Gasimporte statt einheimischer Kernenergie
Die Stromversorgung Japans steht auf des Messers Schneide: Seit dem Unfall in Fukushima-Daiichi sind nach und nach fast alle Kernkraftwerke abgeschaltet worden. Ob und wann sie wieder in Betrieb gehen, ist ungewiss. Gleichzeitig haben die fossil befeuerten Kraftwerke ihre Leistungsgrenze erreicht und dem Land droht die Abwanderung der Industrie.
Bis zur Naturkatstrophe vom 11. März 2011 stammten in Japan rund 30% der elektrischen Energie aus Kernkraftwerken. Als Folge der Tsunami wurden vier Reaktorblöcke in Fukushima-Daiichi zerstört. Ein knappes Jahr später stehen von den 50 verbliebenen Kernkraftwerken des Landes nur noch drei in Betrieb. Zwölf Blöcke an der Ostküste wurden auf Anweisung der japanischen Regierung auf unbestimmte Zeit abgeschaltet. Die übrigen gingen nach und nach für die periodische Wartung vom Netz. Die drei verbliebenen Einheiten werden in den kommenden beiden Monaten ebenfalls den Revisionszeitpunkt erreichen. Japan steht vor der Herausforderung, die Verbrauchsspitze im kommenden Sommer möglicherweise ohne Kernkraftwerke bewältigen zu müssen.
Stresstest vor Wiederanfahren
«Vor einem Wiederanfahren müssen alle japanischen Kernkraftwerke einen Stresstest analog dem EU-Stresstest durchführen», erklärte Takuya Hattori, Präsident des Japan Atomic Industrial Forum (Jaif) am Rande der diesjährigen Pime-Tagung in Warschau (Public Information Materials Exchange der European Nuclear Society). Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) werde die Testergebnisse überprüfen. Danach müssten in einem mehrstufigen Verfahren die ab 1. April 2012 reorganisierte Aufsichtsbehörde Nuclear Safety Commission (NSC) – Nachfolgerin der Nuclear and Industrial Safety Agency (Nisa) –, die zuständigen Ministerien und der Premierminister grünes Licht geben. Dieser Prozess benötige Zeit.
Nach Angaben Hattoris haben bis Mitte Februar 2012 ein Drittel der Kernkraftwerke ihren Stresstestbericht bei der Nisa eingereicht. Im Zentrum der Sofortmassnahmen steht der Schutz der Anlagen bei Überschwemmungen wie das Abdichten der sicherheitsrelevanten Gebäude, der Bau von Tsunami-Schutzwänden sowie das Bereitstellen mobiler Notstromaggregate, die auch nach einer schweren Naturkatastrophe die Notstromversorgung der betroffenen Anlagen sicherstellen. Inzwischen haben die ersten zwei Einheiten, Ohi-3 und -4, die Prüfung durch Nisa und IAEO erfolgreich absolviert und das Dossier an die NSC weitergeleitet.
Am Schluss entscheiden die lokalen Behörden
Die allfällige Freigabe durch die japanische Regierung bedeutet jedoch noch nicht, dass eine Anlage wieder hochgefahren werden dürfe, betonte Hattori. «Das entscheidende letzte Wort hat der Gouverneur der Präfektur, in der das Kernkraftwerk steht. Er kann das Wiederanfahren verhindern, auch wenn die nationalen Behörden zuvor grünes Licht gegeben haben.» Eine Entschädigungspflicht für die privaten Betreibergesellschaften im Fall eines politisch begründeten Neins gebe es nicht. Hattori wollte keine Voraussage wagen, wie die lokalen Behörden entscheiden werden.
Produktionsreserven sind aufgebraucht
Damit steht die Stromversorgung Japans auf des Messers Schneide. Stromimporte sind nicht möglich, da der Inselstaat keine Stromverbindungen zu andern Ländern hat. Die Stromversorger sind gezwungen, auf alte, fossil befeuerte Kraftwerke zurückzugreifen, die eigentlich nur zum Abdecken der Lastspitzen dienen. Inzwischen stehen sie zunehmend rund um die Uhr in Betrieb. «In Zeiten des Spitzenbedarfs sind heute 97% unserer Kraftwerkskapazität am Netz», sagte Hattori. «Das ist eine extrem schmale Reserve. Die geringste Betriebsstörung wird so zum Problem.» Und auch fossil befeuerte Kraftwerke müssen von Zeit zu Zeit für Wartungsarbeiten abgestellt werden.
Zwar konnte nach rollenden Black-Outs im Grossraum von Tokio in den Wochen nach dem grossen Erdbeben die Versorgungslage wieder einigermassen hergestellt werden. Doch bereits im vergangenen Sommer, als die heissfeuchte Witterung den Stromverbrauch der Klimaanlagen nach oben trieb, haben laut Hattori Fabriken Werktagsschichten auf das Wochenende verlegt, um die Lastspitzen zu vermindern. Zudem haben die Stromversorger begonnen, zusätzliche Kapazität in Gaskraftwerken aufzubauen. Ob das ausreicht, um die absehbare Verbrauchsspitze im kommenden Sommer zu decken, liess Hattori offen. «Die Regierung hat noch nicht entschieden, wie sie die Lage bewältigen will.»
Gasimporte kippen Handelsbilanz
Sichtbar ist hingegen der ökonomische Schaden durch das Abschalten der Kernkraftwerke: Erstmals seit mehr als 30 Jahren verzeichnet Japan ein Aussenhandelsdefizit, mitverursacht durch die massive Steigerung der Importe von Flüssiggas für die Stromproduktion. Der Transport von Flüssiggas auf Schiffen ist teuer, und die japanischen Stromversorger sind zudem an Langfristverträge gebunden, die den Gaspreis an den Ölpreis koppeln. «Die Lage ist inzwischen so schwierig geworden, dass die Gefahr besteht, dass die Industrie Produktionslinien ins Ausland verlegt», warnte Hattori.
Quelle
M.S., Gespräch mit Jaif-Präsident Takuya Hattori, 13. Februar 2012