Ionisierende Strahlung – wie gefährlich ist sie wirklich?

Welche Folgen hat ein schwerer Reaktorunfall für die Gesundheit der betroffenen Anwohner? Walter Rüegg, ehemaliger Chefphysiker der Schweizer Armee, schildert die radiologische Lage in Japan nach dem Reaktorunfall in Fukushima-Daiichi und stellt sie in Beziehung zu den natürlichen und medizinischen Strahlenbelastungen sowie deren potenziellen Gesundheitsfolgen – ein Plädoyer für einen entspannteren Umgang mit dem Naturphänomen Radioaktivität.

26. Sep. 2012

Bei der Havarie des japanischen Kernkraftwerks Fukushima-Daiichi im März 2011 entwichen beachtliche Mengen leichtflüchtiger radioaktiver Elemente in die Umgebung. Das wichtigste dieser Radionuklide war Cäsium-137, gefolgt von Iod-131. Wie sind diese Freisetzungen zu bewerten? Zum Vergleich: Bei der Tschernobyl-Katastrophe wurde etwa sechs Mal mehr radioaktives Cäsium in die Atmosphäre emittiert und durch die Kernwaffentests sogar um die hundert Mal mehr. Diese Mengen sind jedoch immer noch klein gegenüber der natürlichen Radioaktivität im Boden: Allein die obersten zehn Zentimeter der Erdkruste enthalten insgesamt etwa das 10’000-Fache an radioaktiven Substanzen verglichen mit dem in Fukushima entwichenen Cäsium.

Strahlenbelastungen

Im Mai 2012 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine vorläufige Schätzung der Dosisbelastung auf Grund der radioaktiven Emissionen der beschädigten Reaktoren von Fukushima veröffentlicht [1]. Die Dosisberechnungen wurden so sorgfältig wie möglich durchgeführt, gestützt auf verschiedene Quellen und Berechnungsmethoden. Die WHO-Experten berücksichtigten alle Belastungswege: die Bestrahlungen durch die radioaktiven Substanzen in der Luft und auf dem Boden wie auch durch verstrahlte Lebensmittel inklusive der Belastungen der Schilddrüse. Im Zweifelsfall orientierten sie sich an pessimistischen Annahmen, um einer möglichen Unterschätzung vorzubeugen.

Die Schätzungen der WHO betreffen die ganze Welt. Allerdings sind die Dosen ausserhalb der Präfektur Fukushima kleiner als die Variation der natürlichen externen Umgebungsstrahlung. Ausserhalb Japans sind die Dosen aus Fukushima vernachlässigbar, da sie nur winzige Bruchteile der natürlichen Belastungen erreichen.

Laut WHO wurden die (evakuierten) Bewohner zweier Ortschaften in der Präfektur Fukushima (Itate und Namie) im ersten Jahr mit einer Dosis zwischen 10 und 50 Millisievert (mSv) bestrahlt; in den übrigen Gebieten der Präfektur betrug die Dosis zwischen 1 mSv und 10 mSv. Den dominierenden Beitrag lieferte dabei die von aussen auf den Körper wirkende Strahlung (externe Dosis); die Lebensdosis dürfte zwei bis drei Mal so hoch ausfallen. Leider macht die WHO keinen Bezug zur Bevölkerungsgrösse. Die am stärksten betroffenen 100’000 Menschen dürften, grob geschätzt, eine durchschnittliche zusätzliche Lebensdosis von 20 mSv erhalten. Der WHO-Bericht verzichtet bewusst auf eine Angabe der gesundheitlichen Folgen und verweist auf einen zukünftigen Bericht.

Gesundheitliche Folgen

Bei der Bestimmung der Langzeitfolgen einer ionisierenden Bestrahlung sind verschiedene Problemfelder zu bewältigen:

  1. Die Symptome sind nicht spezifisch, das heisst alle auftretenden Krankheiten – zur Hauptsache verschiedene Krebsarten – unterscheiden sich nicht von «normalen» Krankheiten. Die Strahlung beeinflusst lediglich deren Häufigkeit.
  2. Die Latenzzeiten betragen durchschnittlich mehrere Jahrzehnte. Nach einer so langen Zeitspanne ist es äusserst schwierig, alle anderen Einflussgrössen ebenfalls zu berücksichtigen.
  3. Bei kleinen Dosen sind die natürlichen Schwankungen der Häufigkeit von Erkrankungen viel grösser als die möglichen Wirkungen der Strahlung. Dies hat zur Folge, dass bei einer Einmaldosis von unter 100–200 mSv (etwa 2–4% der tödlichen Dosis) keine negative Wirkung mehr nachgewiesen werden kann.

Diese Unsicherheit wurde durch die sogenannte LNT-Hypothese «gelöst» (LNT steht für «linear, no-threshold»; linear, ohne Schwellenwert). Sie wurde 1959 von der Internationalen Strahlenschutzkommission ICRP eingeführt und basiert auf Forschungsresultaten mit mittleren bis hohen Einmaldosen. Die LNT-Hypothese besagt, dass die Wirkung linear von der Strahlendosis abhängt (halbe Dosis = halbe Wirkung) und dass es keine Schwelle gibt, unterhalb derer keine Wirkung mehr vorhanden ist. Gemäss dieser Hypothese kann auch eine winzige Dosis ein (winziges) Risiko erzeugen.

Aufgrund der Daten aus den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkriegs geht die Wissenschaft heute von einem Krebsrisiko von etwa 10% pro Sievert Einmaldosis aus (4,5 Sv sind in 50% der Fälle tödlich). Wird die gleiche Dosis über einen längeren Zeitraum verteilt, ist die Wirkung wesentlich kleiner. Die meisten Behörden berücksichtigen dies mit einem (willkürlichen) Reduktionsfaktor von 2. Mit diesen Annahmen sind sie übervorsichtig: Sowohl Tierversuche als auch die Untersuchungen von Bewohnern aus Gebieten mit sehr hoher natürlicher Strahlung zeigen, dass selbst mehrere Sievert über eine längere Zeitspanne verteilt keine erkennbaren gesundheitlichen Folgen haben und auch keine vererbbaren genetischen Schäden erzeugen. Im Folgenden stelle ich vier mögliche Denkschulen zu den gesundheitlichen Folgen vor.

1. Die offizielle Variante: vorsichtig-pessimistisch

Alle Strahlenschutzbehörden benutzen heute die LNT-Hypothese. Gestützt darauf sind unter den 100’000 am meisten belasteten Menschen in Fukushima – bei einer angenommenen durchschnittlichen zusätzlichen Lebensdosis von 20 mSv – etwa 100 zusätzliche Krebsfälle zu erwarten. Diese Krebsfälle treten fast immer erst im Alter auf. Es ist deshalb sinnvoller, die Folgen einer derart kleinen Bestrahlung als Verringerung der mittleren Lebensdauer anzugeben. Bei einer Dosis von 20 mSv beträgt diese etwa 5 Tage.

Andere Folgen als eine erhöhte Krebswahrscheinlichkeit im Alter sind gemäss aktuellem Wissensstand nicht zu erwarten. Mögliche Einflüsse auf das Immunsystem und die Herz-Kreislaufkrankheiten äussern sich erst bei viel höheren Dosen. Da von 100’000 Menschen etwa 25’000 an Krebs sterben (mit grossen zeitlichen, örtlichen und sozioökonomischen Schwankungen), liegen die hypothetischen hundert zusätzlichen Krebsfälle weit unter der Nachweisgrenze. Kleine Änderungen in der Lebensweise, beispielsweise bei Ernährung oder Bewegung, haben einen viel stärkeren Einfluss.

Eine Modellrechnung, durchgeführt von Forschern der Stanford University in Kalifornien, ergab zwischen 15 und 1300 Todesfälle weltweit, mit 130 als wahrscheinlichstem Wert. Auch diese Rechnung basiert auf der LNT-Hypothese und schliesst verschiedene Unsicherheiten ein (daher die grosse Spanne).

Interessant ist an dieser Studie auch die Schätzung von 600 nicht strahlenbedingen Todesfällen aufgrund der erzwungenen Evakuation, vor allem unter älteren und gesundheitlich geschwächten Menschen. Gemäss diesen Modellrechnungen hat die Evakuation maximal 245 Todesfälle aufgrund der Strahlung verhindert. Dies würde bedeuten, dass die Evakuationen mehr Schaden als Nutzen angerichtet haben. Ohne Evakuationen hätte die Strahlung also um die 350 zusätzliche Krebsfälle verursacht – immer noch weit unter der Nachweisgrenze.

Auch wenn diese Zahlen nur auf einer nicht überprüfbaren Hypothese beruhen (LNT), ist es heute politisch undenkbar, keine Evakuation durchzuführen. Man kann sich aber fragen, ob man sich um Gefahren und Risiken, die zu klein sind, um beobachtet zu werden, kümmern sollte. Sollten wir uns nicht lieber auf die real existierenden grossen Risiken konzentrieren? Da heute offensichtlich eine Null-Risiko-Mentalität herrscht, lautet die klare Antwort: Nein. Auch unmessbar kleine und/oder hypothetische Risiken müssen eliminiert werden (Vorsorgeprinzip). Der logische Widerspruch dabei ist die Tatsache, dass das Risiko zu sterben nach wie vor 100% beträgt.

2. Die pragmatisch-realistische Variante

Gemäss den verlässlichsten Statistiken bei Menschen können bei Schockdosen unter 100–200 mSv keine negativen Effekte nachgewiesen werden. Bei zeitlich verteilter Dosis liegt die Schwelle mit Sicherheit wesentlich höher. Die natürliche Strahlung beschert uns eine durchschnittliche Lebensdosis von über 300 mSv – mit grossen örtlichen Schwankungen. In Gebieten mit hoher Uran- oder Thoriumkonzentration im Boden misst man Werte von bis zu mehreren 100 mSv pro Jahr ohne erkennbare negative Folgen – obwohl die Lebensdosen teilweise die tödliche Schockdosis überschreiten.

Die Modellierung der Folgen einer verteilten Bestrahlung, die mit Abstand am besten mit den zahlreichen heute vorliegenden Messdaten übereinstimmt, wurde von Prof. Otto G. Raabe an der University of California Davis durchgeführt. Sie basiert auf einer grösseren Anzahl qualitativ hochwertiger Human- und Tierstudien und zeigt eine klare Schwelle, die stark von der Dosisrate abhängig ist. Demzufolge ist überhaupt keine Wirkung der relativ kleinen Strahlendosen auf die evakuierte Bevölkerung von Fukushima zu erwarten.

Zu einem ähnlichen Schluss kommt ein von der UNSCEAR (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation) am 23. Mai 2012 publizierter Zwischenbericht (Background information for journalists): Die gesundheitlichen Folgen der Fukushima-Katastrophe dürften gering bleiben; es gibt keine klinisch beobachtbaren Effekte, auch nicht unter den am meisten bestrahlten Einsatzkräften. Diese Untersuchungen werden im Auftrag der Generalversammlung der UNO von 72 Wissenschaftern aus 18 Ländern durchgeführt; ein ausführlicher Bericht wird folgen.

3. Die optimistische Variante

Die verlässlichste Leukämie-Humanstatistik ist zweifellos diejenige der etwa 50’000 bestrahlten Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki. Das erstaunliche Resultat: Unterhalb einer Schockdosis von etwa 200 mSv ist die Leukämierate kleiner als bei den Unbestrahlten. Das gleiche Phänomen, genannt Hormesis (griechisch für Anregung), zeigte sich auch bei der vermutlich umfassendsten Tierstudie («Megamouse-Study» mit über sechs Millionen Mäusen) und in einer grossen Anzahl weiterer wissenschaftlicher Studien. Es gibt keinen Zweifel, dass unter gewissen Umständen kleine Strahlendosen positive Effekte hervorrufen können (weniger Krebs, längeres Leben). Auch UNSCEAR akzeptiert diese Tatsache.

Mittlerweile sind die biologischen Mechanismen, die zu diesen Effekten führen, recht gut verstanden. Allerdings gibt es noch offene Fragen – für die Regulierungsbehörden ein Grund, auf LNT zu beharren. Ein weiterer Grund dafür: Eine Regulierung ohne LNT, z.B. gemäss den komplizierten Modellen von Raabe, wäre ein gesetzgeberischer Albtraum. Anderseits: Die Dosen, die um Fukushima herum gemessen werden, liegen im typisch hormetischen Bereich (einige Dutzend mSv bis einige 100 mSv). Sie könnten also auch gesundheitlich positiv wirken. Dies ist auch die Meinung von Prof. Kiyohiko Sakamoto von der Tohoku University in Sendai, einem der führenden japanischen Onkologen.

4. Die extremistische Variante

Es gibt auch die extremen Ansichten: Gewisse Kreise prognostizieren eine Million Tote, ein prominenter Kernkraftgegner sogar 100 Millionen. Allerdings ist es dann schwer zu verstehen, warum überhaupt noch jemand auf dieser Erde am Leben ist. Denn die durch Fukushima in die Umwelt freigesetzten Mengen beziehungsweise die dadurch verursachten kollektiven Dosen sind winzig klein gegenüber jenen der Kernwaffentests und den natürlich vorkommenden Radionukliden. Zudem wurde die Menschheit in den letzten Jahrzehnten durch medizinische Untersuchungen mit einer mindestens zehntausendfachen Fukushima-Kollektivdosis bestrahlt, ohne auszusterben.

Das Problem der Evakuationen

Bei nuklearen Unfällen stellt sich die Frage nach dem Kriterium für eine Evakuation der Bevölkerung. Die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) empfiehlt je nach Situation eine Evakuation bei einer zu erwartenden Jahresdosis von 1 bis 20 mSv pro Jahr. Bei Tschernobyl wurde ab rund 5 mSv pro Jahr evakuiert; ähnlich wurde in Fukushima vorgegangen. Die japanische Regierung strebt eine Dekontamination unter 1 mSv pro Jahr an. Das ist ein Bruchteil der durchschnittlichen natürlichen Dosis und um Grössenordnungen entfernt von den Werten mit ersten nachweisbaren negativen Folgen.

Viele Fachleute halten Evakuationen bei solchen Dosiswerten für unsinnig. So schreibt Prof. Zbigniew Jaworowski, ehemaliger Präsident der UNSCEAR, zu den Evakuationen von Tschernobyl: «The most nonsensical action, however, was the evacuation of 336’000 people...». Es besteht kein Zweifel, dass die Evakuationen negative Auswirkungen auf die Gesundheit haben (Stress, Verlust von vertrautem Beruf und Umfeld, tieferer Lebensstandard) und damit die Lebensdauer reduzieren. Man sollte diese Auswirkungen sorgfältig den möglichen (meist hypothetischen) Lebensdauerreduktionen durch Strahlung gegenüberstellen.

Ein grosses Dilemma bei den heute gültigen Evakuationskriterien (1–20 mSv pro Jahr) ist die Tatsache, dass in vielen Gebieten die natürlichen Dosen diese Kriterien weit überschreiten, ganz besonders wenn man die Lebensdosen als Bezugsgrösse nimmt. Wird ein Gebiet durch den Fallout eine Nuklearkatastrophe so belastet, dass die Dosis im ersten Jahr 20 mSv beträgt, so muss man laut Erfahrungen aus Tschernobyl bei einem lebenslänglichen Aufenthalt in diesem Gebiet mit insgesamt etwa 60 mSv rechnen. Im grössten Teil der Schweizer Alpen überschreitet die Lebensdosis durch die externe Umgebungsstrahlung jedoch 120 mSv. Berücksichtigen wir auch das natürliche Radongas, ergeben sich in unseren Bergen Lebensdosen von mindestens 300 mSv. Konsequenterweise müsste man einen grossen Teil der Schweizer Alpen für unbewohnbar erklären.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Ausser bei der Annahme der offensichtlich unsinnigen extremistischen Variante werden die zu erwartenden gesundheitlichen Folgen der Fukushima-Katastrophe gering sein. Selbst ohne Evakuationen dürften die Auswirkungen der Strahlenbelastung unter der Nachweisgrenze bleiben.

Dr. Walter Rüegg
Dr. Walter Rüegg ist studierter Kernphysiker mit einem starken Interesse an der Strahlenbiologie. Er war 20 Jahre lang an der ETH Zürich und am Schweizerischen Institut für Nuklearphysik (SIN), heute Paul Scherrer Institut (PSI), in der Grundlagenforschung tätig und arbeitete später im Bereich Elektronik und Sensorik der Asea Brown Boveri (ABB). Als langjähriger Chefphysiker der Schweizer Armee hat er sich intensiv mit der Radioaktivität und ihren Wirkungen auf Mensch und Umwelt befasst. Heute ist er selbständiger Berater und Entwickler elektronischer Systeme.

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