Europaparlament-Hearings zur Wiederaufarbeitung
Der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments hat am 17./18. April 2002 Hearings über die Auswirkungen der Wiederaufarbeitung in La Hague und Sellafield auf Mensch und Umwelt abgehalten.
Die Hearings sind die Antwort auf eine öffentliche Kontroverse, die bei der Publikation eines Berichts ausgebrochen war, den das Panel on Scientific and Technological Options Assessment (STOA Panel) bei Wise-Paris in Auftrag gegeben hatte. Teile des Berichts liessen die Autoren von Wise-Paris im Oktober letzten Jahres in tendenziöser Weise nach aussen sickern, so dass sich das STOA Panel zu einer geharnischten Stellungnahme veranlasst sah. Das STOA Panel hatte sich mit dem Thema Wiederaufarbeitung auf Anfrage des Petitionsausschusses befasst und empfahl die Durchführung der Hearings über die Fragen, die 1995 in der Petition 393/95 von einem deutschen EU-Bürger, W. Nachtway, aufgeworfen worden waren. Dieser machte geltend, der Betrieb der Wiederaufarbeitungsanlagen La Hague und Sellafield stünde im Widerspruch besonders zu zwingenden Bestimmungen über den Schutz der Meere.
Zu den Hearings unter der Leitung von Vitaliano Gemelli, Vorsitzender des Petitionsausschusses, wurden neben dem Petitionär und den Autoren der Wise-Studie die nuklearen Aufsichtsbehörden Frankreichs und Grossbritanniens, die zuständigen EU-Kommissare, die Betreiber der beiden Wiederaufarbeitungsanlagen, unabhängige Wissenschafter sowie lokale Körperschaften eingeladen. Die Ergebnisse sollen im Rahmen eines Berichts des STOA Panel veröffentlicht werden.
An den Hearings erhielt der Petitionär, der dabei vom Wise-Vertreter Mycle Schneider unterstützt wurde, Gelegenheit darzustellen, wie die beiden Wiederaufarbeitungsanlagen die Biosphäre der Weltmeere seit Jahrzehnten in einem gigantischen Experiment mit ungeahnten Mengen radioaktiver Stoffen belasteten. Dem hielten die Vertreter der Aufsichtsbehörden Frankreichs, Philippe Saint-Raymond, und Grossbritanniens, Lawrence Williams, entgegen, die Betreiber der beiden Anlagen seien nicht nur unter rigoroser Überwachung und hielten die Vorschriften ein, sondern es sei auch zu bedenken, dass eine vollständige Rückhaltung aller radioaktiven Stoffe unweigerlich die Menge der zu lagernden Rückstände vergrössern würde. Es gelte zu optimieren, um die Gesamtheit aller möglichen Wirkungen gering zu halten. Die beiden angehörten EU-Kommissarinnen, Margot Wallström und Loyola de Palacio, bemängelten die Modelle und Schlussfolgerungen, die der Petition und dem Wise-Bericht zu Grunde lagen. Sie seien überkonservativ und gar nicht für die vorliegende Anwendung entwickelt worden. Es sei auch irreführend, Kollektivdosen einfach über alle Zeiten hoch zu rechnen, statt wie im Strahlenschutz üblich über einen vernünftigen Zeithorizont von beispielsweise 500 Jahren.
Dem pflichteten die eingeladenen Wissenschafter bei. Annie Sugier, Autorin einer umfassenden mehrjährigen Studie über die Gesundheitsfolgen in der Umgebung von La Hague, verwies auf den zwar nicht auszuschliessenden, aber ausserordentlich kleinen Beitrag der radioaktiven Abgaben an das Leukämierisiko: Der Anteil der radioaktiven Abgaben am Gesamtrisiko zur Auslösung der in einem Zeitraum von 18 Jahren unter den beobachteten 4 Leukämiefälle in dieser Region betrage nur 0,03%. Im Vergleich dazu würden alle anderen Quellen von Radioaktivität ein-schliesslich der natürlichen 20% beitragen. Professor John Haywood, Leiter der Medizinischen Physik am James-Cook-Universitätsspital, stellte die möglichen Gesundheitsrisiken der Wiederaufarbeitung in den Rahmen des allgemeinen Krebsrisikos. Er erinnerte an die grosse Verbreitung von Krebs. Allein in Europa erkranken jährlich 2,5 Mio. Menschen an Krebs und 1,5 Mio. sterben an den Folgen. Die Häufigkeit nehme aus verschiedenen Gründen zu und erreiche heute 35'000 auf 100'000 Todesfälle. Der Beitrag der Abgaben aus der Wiederaufarbeitung an diese Erkrankungen sei allerdings minimal. So schätze er ab, dass etwa die Technetium-99-Abgaben über die gesamte Lebensdauer das Krebsrisiko um einen hypothetischen Anteil von 0,00005% erhöhen würden. Mit Investitionen in der Grössenordnung von Milliarden Euro könnten diese Abgaben vermieden werden. Die gleichen Mittel nicht auf hypothetische, sondern reale Krebserkrankungen angewandt hätten allerdings eine 10 Milliarden Mal bessere Wirkung.
Die beiden Firmenvertreter, John Clarke von der BNFL und Philippe Pradel von der Cogema, stellten fest, dass die industrielle Tätigkeit auf dem Wiederaufarbeitungsgebiet umfassend geregelt sei und systematisch überwacht werde. Beide Anlagen erfüllten alle nationalen Anforderungen, die internationalen Regelwerke wie die der Euratom und auch die Empfehlungen der OSPAR-Konvention von 1992 über den Schutz der Meeresumwelt im Nordostatlantik. Zahlreiche wissenschaftliche Berichte kämen übereinstimmend zum Schluss, dass die Abgaben der beiden Standorte weder für die Gesundheit der Bevölkerung noch die Meeresumwelt eine Gefahr darstellen. John Clarke wies auf die vielen Fehlinformationen über die Kernindustrie und besonders die Wiederaufarbeitung hin. So werde behauptet, täglich würden 7 Mio. Liter "radioaktiver Abfall" ins Meer abgelassen. Die Wahrheit sei, dass diese Ableitung vor allem aus dem am Standort gesammelten Regenwasser bestehe und die radioaktiven Stoffe zu mehr als 99,99% zurückgehalten würden. In den letzten 15 Jahren seien in Sellafield GBP 2 Mrd. in die Abfallbehandlung und Abwasserreinigung investiert worden. Die Abgaben der wichtigsten radioaktiven Stoffe seien auf rund 1% der Werte in den 70er-Jahren zurückgegangen. Die maximal mögliche Strahlendosis einer Einzelperson aus den flüssigen Abgaben in die Umgebung von Sellafield erreichte 2000 noch 0,14 Millisievert (mSv). Diese Zahl sei mit dem Grenzwert von 1 mSv und der Dosis aus natürlichen Quellen von 2,2 mSv im Jahr zu vergleichen. Philippe Pradel gab zu bedenken, dass die Abtrennung und Rückführung des Plutoniums die Toxizität der Rückstände um einen Faktor 10 und das Volumen der Abfälle um einen Faktor 5 verringerten.
Quelle
P.B. nach NucNet, 19. April 2002