Eidgenössische Abstimmung vom 18. Mai: Sichere Versorgung - wachsender Konsum

26. März 2003

Zur energiewirtschaftlichen Bedeutung der Kernenergie

Wirtschaft und Bevölkerung wollen eine gesicherte Stromversorgung. Dies hat nicht zuletzt die Abstimmung über das Elektrizitätsmarktgesetz vom September 2002 deutlich gemacht. Der Stromkonsum wächst weiterhin. Der ehemalige Direktor des Bundesamtes für Energie legt dar, dass die Kernenergie im Stromversorgungssystem der Schweiz eine hohe Bedeutung auch für die Stellung der Wasserkraft hat.
Trotz den (leider durch knappe Mittel beschränkten) Anstrengungen von Energie 2000 (heute Energie Schweiz) und trotz Wirtschaftsflaute hat der Stromverbrauch in den neunziger Jahren um durchschnittlich 1,2% pro Jahr zugenommen. Im Jahr 2001 betrug der Zuwachs 2,6%. Von 1990 bis 2001 ist der Stromverbrauch um 7,5 Mrd. kWh gestiegen; dies entspricht fast der Erzeugung des Kernkraftwerks Gösgen (2001: 7,8 Mrd. kWh).
Die Elektrizitätsperspektiven des Bundes lassen keine Zweifel offen, dass der Stromverbrauch weitersteigen wird. Daran würde auch die Annahme einer oder beider Antiatominitiativen nichts ändern. Erst ab Ende dieses Jahrzehnts kann auf eine Stabilisierung gehofft werden.

Ohne Kernenergie: Strom-Manko
In der Kampagne der Kernenergiebefürworter wird darauf verwiesen, dass durchschnittlich etwa 40% unserer Stromerzeugung aus den fünf schweizerischen Kernreaktoren stammen. Der Rest ist überwiegend Wasserkraft. Die Anteile der einzelnen Erzeugungsarten sind von Jahr zu Jahr verschieden, wobei die Wasserkraft stark, die Kernkraft dagegen nur wenig schwankt.
Die 40% Jahresanteil der Kernenergie an der gesamten Stromproduktion untertreiben deren Bedeutung für eine gesicherte Stromversorgung. Denn bekanntlich ist das Winterhalbjahr massgeblich, wo gegenwärtig die Versorgung einigermassen ausgeglichen ist, allerdings mit einer tendenziell steigenden Anzahl von Wintern mit Importüberschuss. Gerade im Winterhalbjahr ist nun aber der Anteil der Kernenergie an der gesamten Stromerzeugung deutlich höher als über das ganze Jahr gerechnet; er kann in trockenen Wintern gegen 50% betragen.
Zur Beurteilung der Versorgungssicherheit ist nicht nur die Erzeugungsseite, sondern auch der Verbrauch zu berücksichtigen. Dabei zeigt sich, dass ohne Kernkraftwerke im Winter teilweise deutlich über 50% Strom gefehlt hätten (für einzelne Elektrizitätswerke wäre das Manko noch grösser). Und selbst in regenreichen Sommern wäre ein Stromimport nötig gewesen. Dies widerlegt Behauptungen, die Stromausfuhr-Überschüsse würden es erlauben, auf unsere Kernkraftwerke zu verzichten.

Kernenergieanteil angemessen
Die Grundlast beträgt im schweizerischen Netz etwa 5000 Megawatt (MW). Sie wird in idealer Weise gemeinsam durch die Laufkraftwerke und die Kernkraftwerke gedeckt. Dies zeigt, dass die Gesamtleistung der Kernkraftwerke von 3200 MW für unser Netz angemessen ist. Eine wesentlich höhere Leistung wäre für die Versorgung unseres Landes nicht sinnvoll, gleich wie der Verzicht auf einzelne oder alle Kernkraftwerke, da Grundlastleistung fehlen würde.
Der Verzicht auf die Kernenergie würde die Wasserkraft nicht stärken, wie da und dort gehofft wird. Will man nämlich die fehlende Grundlast nicht durch fossile Stromerzeugung oder Import decken, so bleibt nur der Rückgriff auf Speicherkraftwerke. Diese werden jedoch wirtschaftlicher für Mittel- und Spitzenlast eingesetzt; Leistungsreserven werden zudem auf dem europäischen Reguliermarkt immer interessanter. Mit dem Ausstieg aus der Kernenergie würde unser Land die Marktchancen der Wasserkraft schmälern.

Ersatz durch Alternativenergien?
Von den neuen erneuerbaren Energien wird zu Recht viel erwartet. Allerdings werden ihre kurz- und mittelfristigen Versorgungsbeiträge stark überschätzt (langfristig, d. h. in einigen Jahrzehnten, werden sie glücklicherweise zu wichtigen Stützen der Energieversorgung). Trotz beachtlichen Fördermassnahmen decken die meistdiskutierten neuen erneuerbaren Energien Photovoltaik und Wind heute nur 0,3 Promille des schweizerischen Strombedarfs. Eine sehr starke Förderung der neuen erneuerbaren Energien, die sie zu Alternativen zum Atomstrom machen würde, ist nach der Ablehnung der Förderabgabe im September 2000 nicht in Sicht. Im Gegenteil möchte das eidgenössische Finanzdepartement die bisherige Förderung im Rahmen der Sanierung der Bundesfinanzen eliminieren.
Auch das von Kernenergiegegnern beschworene Hoffnungsszenario, Windfarmen in der Nord- und der Ostsee zu bauen, bringt keinen gangbaren Weg. Dagegen sprechen nicht nur technische und wirtschaftliche Gründe (raues Klima, unregelmässige Erzeugung, Übertragung des Stroms, hohe Kosten), sondern auch politische Schwierigkeiten wie der Widerstand der Anlieger und Umweltschutzbedenken. Zudem dürften die Meeresanrainerstaaten günstige Offshore-Standorte für ihre eigene Versorgung und die Einhaltung ihrer CO2-Ziele selber nutzen wollen.

Was dann?
Die Initiative "Strom ohne Atom" lässt fossile Stromerzeugung nur bei Nutzung der Abwärme zu. Der Einsatz der Wärme-Kraft-Kopplung ist jedoch nur in geringem Umfang möglich, da geeignete Wärmeabnehmer rar sind. Der Ersatz des bei Annahme der einen oder beider Initiativen entfallenden Kernenergiestroms könnte deshalb nur zu einem geringen Teil durch inländische Gaskraftwerke erfolgen; dies gilt auch für Brennstoffzellen. Zudem würde zwangsläufig der CO2-Ausstoss erhöht. Die ohnehin schwierige Erreichung des im CO2-Gesetz vorgesehenen Emissionsziels wäre beim Ausstieg aus der Kernenergie kaum möglich.
Der fehlende Strom müsste künftig weitgehend durch Import von nuklear und fossil erzeugtem Strom beschafft werden. Dabei ist zu beachten, dass die europäischen Stromüberschüsse bis etwa 2010 abgebaut sein dürften, so dass die Importe zunehmend schwieriger und teurer werden. Die schweizerische Elektrizitätswirtschaft würde wohl in erster Linie auf die vor Jahren in Frankreich erworbenen Bezugsrechte von etwa 2400 MW zurückgreifen. Dabei stellt sich schon die Frage, wie sinnvoll es wäre, auf eigene Kernkraftwerke zu verzichten, dafür Atomstrom aus Anlagen zu beziehen, auf die wir keinen Einfluss haben.
Die Kosten eines Ausstiegs werden für die Jahre 2004 bis 2030 in der bundesrätlichen Botschaft bei Annahme der "Strom ohne Atom"-lnitiative mit CHF 27,8 Mrd., bei der Moratorium-Plus-Initiative mit CHF 13,4 Mrd. beziffert. Die Elektrizitätswirtschaft rechnet in einer eigenen Untersuchung mit noch wesentlich höheren Werten. Die "Strom ohne Atom"-lnitiative würde bereits unter den restriktiveren Annahmen des Bundesrates zu einem um 0,8% tieferen Inlandsprodukt führen als beim Weiterbetrieb der Kernkraftwerke. Diese liefern, dank laufender Nachrüstung und gutem Unterhalt, kostengünstigen Grundlaststrom. Kann sich unser Land heute leisten, vorhandenes wertvolles Produktivkapital zu vernichten und enorme volkswirtschaftliche Kosten zu tragen?
Hier ist noch die immer wieder vorgebrachte Behauptung zu widerlegen, die Kernenergie werde von der Wasserkraft quersubventioniert. In den Mischrechnungen der Elektrizitätswerke drücken alte, billige Anlagen die Durchschnittskosten nach unten, neue, teure dagegen nach oben. Wenn man Quersubventionen (eigentlich ein unzutreffender Ausdruck) monieren will, dann jene von alten zu neuen Kraftwerken. So betragen die Gestehungskosten des neuen Atel-Wasserkraftwerkes Ruppoldingen rund 12 Rp./kWh; es ist nicht zuletzt das Kernkraftwerk Gösgen, das mit Gestehungskosten von 4 Rp./kWh hilft, die Kosten von Ruppoldingen zu decken.

Die Kernenergie nicht aufgeben
Die Kernenergie löst uns zweifellos nicht sämtliche Energieprobleme. Aber sie ist, in idealer Ergänzung zur Wasserkraft, die zweite starke Säule der schweizerischen Elektrizitätsversorgung. Ohne sie würde es wesentlich schwieriger, die Stromversorgung zu sichern und die Klimaziele zu erreichen. Zudem würde es auch teuer. Die hohen Kosten des Ausstiegs aus der Kernenergie würden in der schweizerischen Volkswirtschaft, der es gegenwärtig nicht allzu gut geht, ihre Spuren hinterlassen.

Nachdruck eines Artikels vom 27. März 2003 aus der neuen Zürcher Zeitung NZZ, mit Genehmigung der Redaktion

Quelle

Eduard Kiener, vormals Direktor des Bundesamtes für Energie

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