Die schweizerische Elektrizitätswirtschaft an der Schwelle zur Marktöffnung
Verwaltungsratspräsident Dr. Alfred Gilgen an der Generalversammlung der Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK) vom 12. März 1999
Es beginnt ein neues Stromzeitalter: die Ära des Wettbewerbs
Das Elektrizitätsmarktgesetz wird noch in diesem Frühjahr den Eidgenössischen Räten zur Behandlung unterbreitet. Im Jahr 2001 wird auch in der Schweiz die Marktöffnung Wirklichkeit. Unser Land folgt damit einer unaufhaltsamen Entwicklung, die in Grossbritannien, den skandinavischen Ländern und Teilen der USA begonnen und sich in der gesamten EU mit unterschiedlicher Ausprägung fortgesetzt hat.
Die Strommarktöffnung bringt der Elektrizitätswirtschaft den grössten Umbruch in ihrer gut hundertjährigen Geschichte. Die Schweiz wird sukzessive in den gemeinsamen europäischen Strommarkt integriert. Der Integrationsprozess ist bereits im Vorfeld der Marktöffnung durch grenzüberschreitende Beteiligungen und Allianzen eingeleitet worden. Schon vor der Marktöffnung haben sich deutsche und französische Energiekonzerne namhafte Beteiligungen an schweizerischen Überlandwerken gesichert.
Die schweizerische Elektrizitätswirtschaft ist deshalb schon heute nicht mehr das, was sie in den sogenannt guten Zeiten einmal war. Doch dies sind erst die Vorboten einer gewaltigen Umstrukturierungswelle, die uns noch bevorsteht. Kein Stein wird auf dem anderen bleiben. Aufgrund der Erfahrungen in bereits liberalisierten Strommärkten wird es zu einem starken Konzentrationsprozess kommen. In der Schweiz gibt es heute über 1200 Elektrizitätsversorgungsunternehmen. Neben den sieben Überlandwerken, den Kantons- und Stadtwerken, gibt es eine Vielzahl von kleinen Regional- und Kommunalwerken. Diese extreme Fragmentierung der schweizerischen Elektrizitätswirtschaft wird auf die Dauer keinen Bestand haben. Es nützt nichts, dies zu beklagen; vielmehr geht es darum, die eingeleitete Entwicklung mitzumachen: möglichst nicht als Spielball, sondern als Spielmacher. Dazu sind aber von allen Beteiligten gewaltige Anstrengungen nötig.
Gnadenloser Wettbewerb
Verglichen mit den bisherigen Usanzen in der schweizerischen Elektrizitätswirtschaft bringen die in einem liberalisierten Markt geltenden Spielregeln eine kulturelle Revolution. Wer die Zeichen des bevorstehenden Wettbewerbs nicht erkennt (oder erkennen will) und die notwendigen Veränderungen im Unternehmen nicht rechtzeitig einleitet, wird schmerzhaft erfahren müssen, wie gnadenlos der Wettbewerb im offenen Strommarkt sein kann. "Erfolgreich ist nur der, der seine Handlungsweise mit dem Zeitgeist in Einklang bringt", wie dies Machiavelli schon treffend formulierte.
Der Pflicht zu einer wettbewerbsstarken Strategie können sich deshalb weder Management noch Verwaltungsrat entziehen. Den Königsweg kennt aber zum voraus niemand, obwohl für teures Geld Strategien entwickelt werden. Doch die Kosten für die Vorbereitung auf den Leistungswettbewerb sind im Vergleich zum Schaden klein, der entsteht, wenn man seine Hausaufgaben nicht macht.
Die Zukunft bringt für alle Akteure der Elektrizitätswirtschaft mehr Unsicherheit und grössere Risiken. Chancen, im Wettbewerb mitzuhalten, haben nur jene Unternehmen, die den Kunden konkurrenzfähig tiefe Strompreise anbieten können. Um dieses Ziel zu erreichen, sind insbesondere vier Massnahmen nötig:
- Neustrukturierung und Neuausrichtung des Unternehmens im Hinblick auf die sich rasch ändernden Marktverhältnisse.
- Kooperationen, Beteiligungen und Zusammenschlüsse mit dem Ziel der Ertragssteigerung.
- Ideenreiches Marketing und konsequente Kundenorientierung, zusammen mit den Vertriebspartnern.
- Kostenmanagement zur Erreichung der Kostenführerschaft.
Aufgrund des sich verschärfenden Wettbewerbs wird das Strompreisniveau sinken. Dies zeigen die
Erfahrungen der bereits geöffneten Strommärkte. Davon werden zuerst die Industriekunden profitieren, die heute im internationalen Vergleich recht hohe Strompreise bezahlen. Allerdings ist dieses Strompreisniveau zu einem grossen Teil die Folge der hohen Belastungen und politischen Hemmnisse, denen die Stromproduzenten in der Schweiz ausgesetzt sind. Die Grossindustrie ist sich aber der aktuellen Marktsituation mit den nicht unbedeutenden Stromproduktions-Überkapazitäten bewusst. Sie verlangt deshalb schon im Vorfeld der Marktöffnung tiefere Strompreise. Die Preise könnten unter Wettbewerbsbedingungen kurz- und mittelfristig beträchtlich einbrechen. Erst mit steigender Nachfrage und dem Abbau der europaweiten Überkapazitäten werden sich Angebot und Nachfrage wieder einpendeln. Alsdann werden auch wieder vernünftige Gewinne zu erzielen sein.
Faire Startbedingungen für alle Marktteilnehmer
Bei diesen Marktperspektiven ist es für die schweizerische Elektrizitätswirtschaft von existenzieller Bedeutung, dass ihre Effizienzanstrengungen mit der Ausgestaltung fairer politischer Rahmenbedingungen unterstützt werden. Es ist mir ein Anliegen, dass sich die Politiker der Folgen der neuen Regulierungen bewusst werden. Die Politik ist gefordert, mit dem Elektrizitätsmarktgesetz faire Startbedingungen für alle Marktteilnehmer zu schaffen. Dabei ist zu bedenken, dass für die bisherigen Elektrizitätswerke, aufgrund der politischen Forderungen an Monopolisten, die Versorgungssicherheit an erster Stelle ihrer Anstrengungen stehen musste. Ein anderes Verhalten hätte gegen die bisher gültige Versorgungsmaxime verstossen. Der Gesetzgeber muss deshalb eine angemessene Übergangsregelung vom Monopol zum Markt schaffen, denn ein solcher Wandel braucht dringend eine unterstützende politische Flankierung.
Die wichtigsten Parameter für die Liberalisierung sind die Marktöffnungsgeschwindigkeit und die Regelung des Kreises der Marktzutrittsberechtigten. Konkret geht es um folgende Anliegen: Der Strommarkt soll in der Schweiz für alle Kunden innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren geöffnet werden. Damit bleibt der Elektrizitätswirtschaft ausreichend Zeit, die nötigen Strukturanpassungen vorzunehmen. Die Etappierung der Marktöffnung entspricht dem Grundgedanken der EU-Strombinnenmarktrichtlinie. Die zeitliche und quantitative Staffelung soll den berechtigten Interessen der schweizerischen Elektrizitätswirtschaft und deren Eigentümer Rechnung tragen. Bekanntlich sind dies zum weitaus überwiegenden Teil die Kantone und die Gemeinden. Eine unbedacht rasche Marktöffnung würde den Eigenkapitalwert unserer Branche im Ausmass von mehreren Milliarden Franken gefährden. Aus dieser Erkenntnis heraus hat sich die Branche auch darauf geeinigt, dass die Elektrizitätsversorgungsunternehmen und Stromendverteiler erst mit der Erweiterung des Marktöffnungskreises nach drei Jahren stufenweise in die Liberalisierung einbezogen werden.
Das Elektrizitätsmarktgesetz ist als schlankes Rahmengesetz zu konzipieren, das der Eigeninitiative der Branche einen ausreichend grossen Spielraum offen lässt. Ich denke dabei insbesondere an die Organisation des Netzzugangs. Ein einfacher diskriminierungsfreier Zugang zu den Elektrizitätsnetzen kann durch die Elektrizitätswirtschaft gewährleistet werden. Eine schweizerische Koordinationsstelle für den Netzzugang könnte für den Kunden zur Stromdurchleitung auf allen Netzebenen hilfreich sein. Der politische Druck auf die Branche zur Schaffung einer schweizerischen Netzgesellschaft für das Höchstspannungsnetz steigt jedoch beträchtlich. Im Moment gibt es in der Branche noch keinen Konsens. Ich bin überzeugt, dass ein freiwilliger Zusammenschluss des Höchstspannungsnetzes eine betriebswirtschaftlich sinnvolle Lösung wäre. Kommt der Zusammenschluss nicht freiwillig, ist zu befürchten, dass er gesetzlich vorgeschrieben wird.
Gegen nationale Sonderlasten
Die Schweiz braucht dringender denn je eine widerspruchsfreie und langfristig angelegte Energiepolitik. Die Elektrizitätsunternehmen müssen wissen, welche politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen in Zukunft gelten. Mehrfach wurde von unserer Branche eine Harmonisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen mit dem Ausland - im Sinne von gleich langen Spiessen - verlangt. Die nationalen Sonderlasten sind abzubauen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die internationale Konkurrenzfähigkeit der schweizerischen Elektrizitätswirtschaft. Die Rahmenbedingungen sind bis heute nicht harmonisiert und wirken deshalb wettbewerbsverzerrend.
Generell sollte die Energiepolitik die Wettbewerbsfähigkeit der einheimischen Energiewirtschaft stärken und nicht mit neuen Steuern und Abgaben noch zusätzlich belasten. Ob die Einführung einer Energieabgabe auf allen nicht erneuerbaren Energieträgern, wie sie seit dem letzten Jahr in verschiedenen Nuancen in den Eidgenössischen Räten diskutiert wird, wirklich für unsere Volkswirtschaft das Gelbe vom Ei ist, wage ich deshalb zu bezweifeln. Die vielfach beschworene "doppelte Dividende" - mehr Umweltschutz bei gleichzeitig höherer Beschäftigung - ist reine Utopie. Eine weitere fiskalische Belastung der Energie würde die Attraktivität und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Schweiz eindeutig schwächen. Unser Land läuft mit der Einführung einer Energiesteuer Gefahr, einen energiepolitisch und wirtschaftlich unheilvollen Weg zu beschreiten. Eine Energieabgabe widerspricht den Grundprinzipien der Marktwirtschaft. Die Staatsquote würde erneut erhöht.
Neue Subventionstatbestände zur Förderung der erneuerbaren Energien und für energietechnische Effizienzverbesserungen würden geschaffen. Mit einer Energieabgabe besteht die Gefahr einer neuen Subventionsbürokratie "à la Landwirtschaft". Wirtschaftlich nicht tragfähige Wirtschaftszweige werden mit den Subventionen der Energieabgabe aufgebaut. Damit wird einer falschen Struktur- und Investitionspolitik Vorschub geleistet.
Der einzige energie- und umweltpolitisch durchdachte Ansatz wurde mit dem CO2-Gesetz gewählt: Vorrang vor neuen Steuern und Abgaben haben Selbstverpflichtungen der Wirtschaft zur Verbesserung der Energieeffizienz und zur Senkung der CO2-Emissionen. Das CO2-Gesetz hat als Pionier-Regulierung den richtigen Weg eingeschlagen.
Zukunftsgerecht ist eine Energiepolitik, wenn sie den kommenden Generationen eine möglichst breite Palette von Optionen offen hält. Dazu gehört zwingend auch die Kernenergie. Ein Verzicht auf die sichere Nutzung der CO2-freien Kernenergie ist nicht zu verantworten.
Im Oktober des vergangenen Jahres wurde die Öffentlichkeit - und natürlich auch die NOK als Kernkraftwerkbetreiberin - durch die Information aufgeschreckt, wonach der Bundesrat beabsichtigt, "die bestehenden Kernkraftwerke nach einer noch festzulegenden Frist stillzulegen".
Während die Schweiz an internationalen Klimakongressen und mit einem vorbildlichen CO2-Reduktionsgesetz eine Vorreiterrolle für eine nachhaltige Klimapolitik einnimmt, wurde mit den kernenergiepolitischen Absichten des Bundesrats weitherum, insbesondere bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, eine grosse Verunsicherung ausgelöst.
Kernenergie vermindert Klimaerwärmung
Der Mitte September 1998 in Houston durchgeführte 17. Weltenergiekongress hat demgegenüber einmal mehr auf die wichtige Rolle der Kernenergie bei der Deckung des Strombedarfs und zur Vermeidung einer Klimaerwärmung hingewiesen. Bei einem Rückzug aus der Kernenergie könnte die Schweiz ihre internationalen Verpflichtungen im Rahmen des Klimaschutzes ohne unzumutbare finanzielle Belastungen gegenüber der Bevölkerung und der Wirtschaft nicht erfüllen.
Eine vorzeitige Abschaltung der bestehenden schweizerischen Kernkraftwerke macht keinen Sinn. Im Juni 1997 hat Bundesrat Leuenberger die Schlussfolgerungen aus dem von ihm geleiteten Energiedialog bekanntgegeben. Darin ist unmissverständlich festgehalten: "Die bestehenden Kernkraftwerke sollen weiter betrieben werden, solange ihre Sicherheit gewährleistet ist." Es gibt keinen Grund, davon abzuweichen!
Die schweizerischen Kernkraftwerke weisen eine hohe Arbeitsverfügbarkeit aus. Die Spitzenränge, die sie im Vergleich mit den rund 440 Kernkraftwerken der Welt einnehmen, sind das Ergebnis der hohen Sicherheitskultur und der guten Ausbildung der Mitarbeitenden.
Eine vorzeitige Stilllegung der Schweizer Kernkraftwerke wäre volkswirtschaftlich unsinnig, weil
- damit die schweizerische Elektrizitätswirtschaft im liberalisierten Strommarkt gravierende Wettbewerbsnachteile hätte;
- Investitionen in mehrfacher Milliardenhöhe vernichtet würden;
- mehrere Tausend hochqualifizierte Arbeitsplätze in der Schweiz verloren gingen;
- in den Standortregionen der Kernkraftwerke mit beachtlichen direkten und indirekten Steuerausfällen
gerechnet werden müsste.
Mit einer politischen Beschränkung der Lebensdauer der schweizerischen Kernkraftwerke würde das vom Volk 1990 beschlossene Kernenergie-Moratorium in Verkennung des Volkswillens in Richtung "Ausstieg aus der Kernenergie" uminterpretiert. Dies ist politisch nicht haltbar.
Tadelloser Zustand der Schweizer Kernkraftwerke
Sachverständige Vertreter von Behörden und Betreibern aus verschiedenen Ländern haben sich wiederholt positiv über den Zustand der Schweizer Kernkraftwerke geäussert. Die umsichtige und schonende Betriebsweise der Kernkraftwerke im Grundlastbereich und die regelmässigen Investitionen in die Erneuerung der Anlagen bieten die besten Voraussetzungen zu einem langjährigen, sicheren Weiterbetrieb. Die schweizerischen Kernkraftwerke können aufgrund der Erfahrungen in den USA voraussichtlich 50 bis 60 Jahre sicher betrieben werden. Es wäre deshalb absurd, im heutigen Zeitpunkt die noch verbleibende Lebensdauer der schweizerischen Kernkraftwerke verbindlich festzulegen. Auch die Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen hat aufgrund der laufenden Diskussionen am 19. Februar 1999 mit aller Deutlichkeit festgehalten: "Es lassen sich keine harten sicherheitstechnischen Gründe finden, die eine Festlegung konkreter Restbetriebszeiten rechtfertigen oder notwendig erscheinen lassen."
Es ist ein Gebot der weltweiten Verantwortung, dass die Schweiz, als industriell hochentwickeltes Land, technisch anspruchsvolle Energieoptionen mit entsprechend hohen Sicherheitsanforderungen nutzt. Zum Schutz von Mensch und Umwelt müssen wir auch unser Kernenergie-Know-how zum Einsatz bringen. Wir dürfen nicht auf der "Zuschauerbank" Platz nehmen.
"Jede Generation hat ihren Tagesmarsch auf der Strasse des Fortschritts zu vollenden. Eine Generation, die auf schon gewonnenem Grund wieder rückwärts schreitet, verdoppelt den Marsch für ihre Kinder". Diese Weisheit des britischen Staatsmanns David Lloyd George gilt besonders für die aktuelle Kernenergiediskussion.
Quelle
Dr. Alfred Gilgen