Die Ereignisse in Fukushima-Daiichi
Das Seebeben vom 11. März 2011 vor der japanischen Nordostküste und der anschliessende Tsunami standen am Anfang eines schwerwiegenden Unfalls im Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi: Notkühlsysteme fielen aus, es gab mehrere Wasserstoffexplosionen und bedeutende Mengen radioaktiver Stoffe gelangten in die Umwelt. Drei Reaktorblöcke und ein Brennelement-Abklingbecken müssen bis auf Weiteres extern gekühlt werden.
Der folgende Bericht beruht auf teilweise ungesicherten Daten und Rekonstruktionen von verschiedenen Quellen. Er beschränkt sich auf rein technische Aspekte der Ereignisse im Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi. Die Unfallabläufe in den einzelnen Reaktoren sind aus Simulationen und Risikostudien bekannt. Ob sie sich wirklich so zugetragen haben und wie gross das Schadensausmass ist, kann erst nach einer abschliessenden Analyse mit Sicherheit gesagt werden.
Viertgrösstes Beben seit 1000 Jahren
Am 11. März 2011 kam es um 14.46 Uhr Ortszeit rund 80 km vor der Nordostküste der japanischen Hauptinsel Honshu in einer Tiefe von 32 km zu einem gewaltigen Seebeben. Mit einer Magnitude von 9,0 gilt es als das weltweit viertstärkste seit über 1000 Jahren. Als unmittelbare Folge löste es Sekunden danach in insgesamt elf japanischen Kernkraftwerksblöcken automatische Schnellabschaltungen aus. In Onagawa (Distanz zum Epizentrum rund 80 km) waren zu diesem Zeitpunkt alle drei Siedewasserreaktoren (BWR) der Tohoku Electric Power Company in Betrieb und fuhren automatisch herunter. In Fukushima-Daiichi (Fukushima I) – rund 150 km südwestlich des Epizentrums – befanden sich drei der sechs Reaktoren (ebenfalls BWR) der Tokyo Electric Company (Tepco) im Wartungsstillstand (Blöcke 4, 5 und 6). Die anderen drei fuhren automatisch herunter. Die vier BWR im Schwesterwerk Fukushima-Daini (Fukushima II) – rund 10 km weiter südlich – kamen alle automatisch zum Stillstand, ebenso der BWR Tokai der Japan Atomic Power Company rund 260 km südwestlich des Epizentrums. Neben den elf Reaktoren gingen zahlreiche Gas-, Kohle und Wasserkraftwerke vom Netz, das in grossen Gebieten zusammenbrach.
In Fukushima-Daiichi fielen wegen des Bebens alle drei externen Stromversorgungen aus. Zu diesem Zeitpunkt waren alle betroffenen Reaktoren grösstenteils noch unbeschädigt und die dieselbetriebenen Notkühlsysteme waren automatisch angelaufen. Die Wärmeerzeugung durch Kernspaltung war planmässig angehalten. Alle sicherheitstechnisch nicht erforderlichen Zu- und Ableitungen zu den Primärcontainments waren verschlossen und diese damit abgedichtet. Nach einer Schnellabschaltung erbringt ein Kernreaktor aufgrund des radioaktiven Zerfalls der Spaltprodukte in den Brennelementen noch etwa 6% der Wärmeleistung im Normalbetrieb, einen Tag später noch rund 1% und nach fünf Tagen etwa 0,5%. Vorausgesetzt, der Reaktorkern kann wie vorgesehen gekühlt werden, verursacht diese Nachzerfallswärme keine Probleme.
Tsunami mit 14-Meter-Wellen
Das Beben vom 11. März löste indessen einen Tsunami (japanisch für «Hafenwelle») aus. Dieser traf um 15.41 Uhr Ortszeit mit einer Höhe von bis zu 14 Metern auf das Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi, das unmittelbar an der Küste rund 10 m über dem Meeresspiegel liegt. Da die Schutzmassnahmen gegen Überflutung auf eine maximale Wellenhöhe von nur 5,7 m ausgelegt sind, überschwemmte der Tsunami die Blöcke 1, 2, 3 und 4 bis auf eine Höhe von rund 5 m. Bei den etwas höher gelegenen Blöcken 5 und 6 erreichte der Wasserstand rund einen Meter. Die zur Kühlung dienenden Meerwasserpumpen bei den Wassereinlasskanälen wurden komplett überflutet, ebenso die Notstromdiesel in den Turbinengebäuden zwischen den Reaktoren und der Uferlinie. Zur Überflutung der Dieselgeneratoren kam es vermutlich deshalb, weil Wasser über unterirdische Schächte in die Turbinengebäude eindrang. Alle sechs Blöcke sind mit je zwei Dieselgeneratoren ausgerüstet, Block 6 zusätzlich mit einem luftgekühlten Aggregat. Für den Versagensfall der Dieselgeneratoren verfügen die Fukushima-Daiichi-Einheiten 2–6 über eine Vorrichtung, die mit dampfbetriebenen Pumpen Wasser aus der Kondensationskammer des Primärcontainment – der Wetwell – in das Reaktordruckgefäss pumpt und dieses damit abkühlt oder zumindest einen Anstieg der Temperatur verhindert. Dieser Prozess ist trotz Dampfantrieb auf Strom angewiesen. Im Fall der Fukushima-Daiichi-Einheiten 2–6 stammt dieser aus Batterien. Die Temperatur in der Kondensationskammer muss unter 100°C liegen, damit das System funktioniert.
Ausfall der Notkühlung
Am 11. März um 16.36 Uhr fiel die elektrisch betriebene Notkühlpumpe von Block 1 aus, weil die Batterien leer waren. Am 13. März gegen 03.00 Uhr versagte auch die dampfbetriebene Notkühlpumpe in Block 3 nach Erschöpfung der Batterien für den Steuerstrom. Die Pumpe in Block 2 erlitt am 14. März um 13.25 Uhr einen Schaden.
Nach dem Wegfall jeglicher Kühlung bringt die Nachzerfallswärme das Wasser im Reaktordruckgefäss zum Verdampfen. Mit zunehmender Verdampfung steigt der Druck im Druckgefäss, was zu einer automatischen Druckentlastung in die Wetwell führte. Je mehr Wasser verdampft, desto weiter ragen die Brennelemente aus dem Wasser. Wenn Brennelemente des Fukushima-Typs noch etwa zu einem Drittel von Wasser bedeckt sind, steigt die Temperatur an der Oberfläche der Brennstäbe auf rund 900°C und die Hüllrohre beginnen, Schaden zu nehmen. Bei etwa 1200°C setzt eine chemische Reaktion der Zirkonlegierung, aus der die Hüllrohre bestehen, mit Wasserdampf ein. Bei dieser exothermen Reaktion oxidiert der Sauerstoff aus dem Wasser das Zirkon, die Temperatur steigt weiter an und es entsteht freies Wasserstoffgas. Dieses kann aus dem Druckgefäss über die Wetwell in die Drywell des Primärcontainment und von dort in das Reaktorgebäude gelangen, wo es zusammen mit dem Luftsauerstoff hochexplosives Knallgas bilden kann. Im Fall der Blöcke 1, 2 und 3 von Fukushima-Daiichi wurden die Containments zu einer Art Dampfkochtöpfe. Der Druck darin stieg auf bis zu 8 bar an. Ausgelegt sind sie auf maximal 5 bar.
Druckentlastungen, dann Wasserstoffexplosionen
Die Einsatzkräfte der Tepco führten am 12. und 13. März mit dem Einverständnis der nuklearen Aufsichtsbehörde Nuclear and Industrial Safety Agency (Nisa) bei allen drei Blöcken kontrollierte Druckentlastungen durch, um grössere Schäden an den Containments zu verhüten. Dadurch sank der Druck in ihrem Innern auf unter 4 bar. Ein Nachteil dieser Massnahme war, dass radioaktive Substanzen aus dem Containment ins Freie entwichen und die Wasserstoffkonzentration in den Reaktorgebäuden anstieg. Beim Block 1 kam es in der Folge am 12. März und bei Block 3 am 14. März zu einer Wasserstoffexplosion auf den Service-Geschossen oberhalb der Containments mit schweren Schäden an den Aussenhüllen der Reaktorgebäude. Die verstärkten Betonkonstruktionen um die Reaktoren selbst hielten stand. In Block 2 ereignete sich am 15. März eine kleinere Explosion, welche die Reaktorhalle nicht wesentlich beschädigte, jedoch das Primärcontainment beschädigte, sodass erhebliche Mengen radioaktiver Stoffe austraten.
Block 4 war zum Zeitpunkt der Naturkatastrophe in Revision und sämtliche 1331 Brennelemente befanden sich im Abklingbecken. Dieses war somit zu über 80% mit bestrahltem Brennstoff gefüllt. Dadurch entwickelte sich eine hohe Nachwärme. Da auch hier die Kühlwasserzufuhr unterbrochen war, verdampfte das Beckenwasser und die oberen Enden der Brennelemente lagen nach wenigen Tagen trocken. Brennstabstrukturen brachen auseinander und ein Teil des Brennstoffs schmolz. Ebenfalls am 15. März kam es im Bereich des Abklingbeckens zu einem Brand und vermutlich zu einer Explosion, welche die Reaktorgebäudehülle beschädigte.
Wegen der Gebäudeschäden konnten die radioaktiven Stoffe aus den Blöcken 1, 3 und 4 praktisch ungehindert in die Umgebung gelangen. Noch mehr radioaktive Stoffe traten aus, als vom 15. März an wegen ungenügender Kühlung das Wasser nicht nur im Brennelementlagerbecken des Blocks 4, sondern auch im Block 3 zu sieden begann und die dort gelagerten Brennelemente ebenfalls Schäden erlitten.
Die Blöcke 5 und 6 befanden sich am 11. März ebenfalls im Revisionsstillstand. Hier befanden sich Brennelemente sowohl in den Abklingbecken als auch in den Reaktoren, und die Temperaturen in den Becken und Reaktoren stiegen vorübergehend an. Doch konnte ein Dieselgenerator und damit die Kühlung ab dem 20. März wieder in Betrieb gesetzt werden, bevor die Lage eskalierte.
Technische Ereignisbewältigung
Um die Reaktoren und Abklingbecken zu kühlen, entschied sich die Tepco, Wasser in die Reaktorsysteme zu pumpen sowie die Containments und Abklingbecken von aussen zu besprühen. Doch stand dafür zunächst nur Meerwasser zur Verfügung. Bei Block 1 wurde am Abend des 12. März damit begonnen, nachdem die Wasserzufuhr zum Reaktor während etwa 28 Stunden unterbrochen gewesen war. In dieser Zeit erreichte der Reaktorkern zeitweise Temperaturen um die 2700°C. Dies reicht zum Aufschmelzen des Reaktorkerns und zur Bildung einer lavaartigen Masse – des sogenannten Coriums – unten im Reaktordruckgefäss. Block 2 wurde ab dem Abend des 14. März nach etwa drei Stunden ohne Kühlung mit Meerwasser gekühlt. Hier erreichte die geschätzte Höchsttemperatur rund 2500°C, wodurch die einzelnen Brennstäbe auseinanderbrachen. Block 3 war ungefähr acht Stunden ohne Kühlung geblieben, bis am 13. März kurz nach Mittag die Einspeisung von Meerwasser begann. Hier lag die Höchsttemperatur bei geschätzten 1800°C, was das Schmelzen der Edelstahl- und Metallteile der Brennelementstrukturen zur Folge hatte. Auch das Abklingbecken von Block 4 wurde mit Meerwasser gekühlt. Ab dem 22. März kam dafür ein Spritzbetonfahrzeug zum Einsatz.
Süsswasser statt Meerwasser
Das Einfüllen von Meerwasser in die Reaktoren führt auf den Brennelementen zu Salzablagerungen, welche die Wärmeabfuhr zusätzlich hemmen. Deshalb stellten die Einsatzkräfte bei der Kühlung der Reaktoren 1 bis 3 auf Süsswasser um, sobald es vom 25. März an verfügbar war. Ab dem 1. April wurde ausserdem zur Kühlung der Lagerbecken für ausgediente Brennelemente in den Reaktorabklingbecken und im zentralen Zwischenlager ausschliesslich Süsswasser verwendet.
Parallel zu den Kühlmassnahmen arbeiteten die Tepco-Angestellten an der Wiederinstandstellung der externen Stromversorgung. Am 20. März konnte das Kernkraftwerk mit dem Stromnetz verbunden werden, und am 2. April waren alle sechs Blöcke wieder extern mit Strom versorgt. Jetzt konnten die mobilen Feuerwehrpumpen, die bis dahin Wasser in die Reaktoren befördert hatten, durch elektrische Pumpen ersetzt werden. Die Schäden infolge der Überflutung verunmöglichten hingegen die Inbetriebnahme der reaktoreigenen Pumpmittel.
Beim Besprühen der Reaktoren und Lagerbecken flossen grössere Mengen Wasser zusammen mit freigesetzten radioaktiven Stoffen in die Untergeschosse der Reaktor- und Maschinengebäude, wo sie sich sammelten. Durch das Erdbeben entstandene Risse und Lecks gelangten von dort erhebliche Mengen hochaktives Wasser über Schächte und Kanäle ins Meer. Das grösste Leck in einem Schacht bei Block 2, durch das hochaktives Wasser ausfloss, konnte am 6. April – nach vier Tagen Suche – abgedichtet werden.
Aktueller Stand
Zurzeit wird im Fukushima-Daiichi hochaktives Wasser, das sich in den Untergeschossen und Turbinengebäuden der Blöcke 1 bis 3 angesammelt hatte, in andere Anlagenteile gepumpt, um es bis zur Dekontamination zu lagern. Dies soll den Zugang zu den Reaktoren für Instandsetzungsarbeiten ermöglichen. Auch das beschädigte Containment von Block 2 muss repariert werden, bevor die regulären Kühlsysteme wiederhergestellt werden können. In das Containment von Block 1 wird seit dem 6. April Stickstoffgas gepumpt, um weitere Wasserstoffexplosionen zu vermeiden. Bei Redaktionsschluss am 4. Mai 2011 waren diese Massnahmen noch im Gang.
Ausblick
Wann die Anlage inspiziert und ein umfängliches Bild der Schadenslage gemacht werden kann, ist noch nicht absehbar. Die Tepco hat einen Massnahmenplan veröffentlicht, der sich über sechs Monate erstreckt.
Es darf indessen jetzt schon davon ausgegangen werden, dass die Erdbebenschutzmassnahmen ausreichten, und zwar bei einem Beben, dessen Stärke die Auslegungsbeschleunigungen um bis zu 25% übertraf. Die umfassenden Schäden, die eine rechtzeitige und ausreichende Kühlung der Brennelemente in den Reaktoren und Lagerbecken verunmöglichten, waren mit grösster Wahrscheinlichkeit allein eine Folge des Tsunamis. Die Überflutungsschutzmassnahmen in Fukushima-Daiichi waren auf eine Wellenhöhe von 5,7 m ausgelegt, die tatsächliche Wellenhöhe erreichte 14 m.
M.Re. nach VGB Powertech: «Earthquake and Tsunami in Japan on March 11, 2011 and Consequences for Fukushima and other Nuclear Power Plants», und Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat, Bericht, 5. Mai 2011, sowie verschiedenen Medienmitteilungen der Tepco, der Nisa und Meldungen des Japan Atomic Industrial Forum, der Kyodo News und der NHK World
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