Canupis-Studienergebnisse: kein Nachweis für mehr Kinderkrebs in der Schweiz

Die Canupis-Studie (Childhood Cancer and Nuclear Power Plants in Switzerland) ergab keine Hinweise auf eine Häufung von Kinderkrebs in der Nähe von schweizerischen Kernkraftwerken. In der Langzeitstudie wurden alle seit 1985 in der Schweiz geborenen Kinder aufgenommen. Durchgeführt hat die Studie das Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) der Universität Bern in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Kinderkrebsregister, der Schweizerischen Pädiatrischen Onkologiegruppe und weiteren Forschungsstellen.

19. Juli 2011
Ergebnisse der Kohorte nach Geburtsort: Die errechneten relativen Erkrankungshäufigkeiten berücksichtigen Geschlecht, Alter sowie Diagnosejahr und gelten für einen 95%igen statistischen Vertrauensbereich. Verglichen werden die Ergebnisse für Kinder aus Zone I (bis 5 km Abstand), Zone II (5–10 km) und Zone III (10–15 km) mit den Ergebnissen der Zone IV (ausserhalb der 15-km-Zone) je für die Umgebung von Kernkraftwerken (KKW), allen Kernanlagen
Ergebnisse der Kohorte nach Geburtsort: Die errechneten relativen Erkrankungshäufigkeiten berücksichtigen Geschlecht, Alter sowie Diagnosejahr und gelten für einen 95%igen statistischen Vertrauensbereich. Verglichen werden die Ergebnisse für Kinder aus Zone I (bis 5 km Abstand), Zone II (5–10 km) und Zone III (10–15 km) mit den Ergebnissen der Zone IV (ausserhalb der 15-km-Zone) je für die Umgebung von Kernkraftwerken (KKW), allen Kernanlagen (KKW, Forschung, Lager) und nur geplanten KKW-Standorten.

Für die Canupis-Studie (Spycher B. et al., 2011) verglich das Forscherteam das Risiko für Leukämie und andere Krebsarten bei Kindern, die in der Nähe von Kernkraftwerken zur Welt kamen oder aufwuchsen, mit dem Krebsrisiko von Kindern aus grösserer Entfernung. Alle seit 1985 in der Schweiz geborenen Kinder wurden in die beiden Kohortstudien aufgenommen. Insgesamt wurden demzufolge von 1985 bis 2009 über 1,3 Millionen Kinder im Alter von 0 bis 15 Jahren beobachtet. Basis für die Studie waren eine Analyse des Wohnorts wie auch des Geburtsorts aller Schweizer Kinder, die in den Volkszählungen 1990 und 2000 erhoben wurden, sowie das Schweizer Kinderkrebsregister. Für den Vergleich der Krebsrisiken teilten die Forscher die Schweiz in vier Zonen auf: Zone I für das Gebiet innerhalb von 5 km zum nächsten Kernkraftwerk, Zone II zwischen 5 und 10 km, Zone III im Umkreis von 10 bis 15 km und Zone IV für den Rest des Landes ausserhalb des 15-km-Perimeters. Anschliessend wurde für jede Zone das Krebs- und Leukämierisiko berechnet. Die Risiken in Zone IV dienten als Referenz für den Vergleich. Bei der Datenanalyse mitberücksichtigt wurden eine Anzahl anderer potenzieller Risikofaktoren wie Starkstromleitungen, Verkehr, Pestizide, sozioökonomischer Status und auch weitere Kernanlagen.

Kein erhöhtes Krebsrisiko

Von 1985 bis 2009 wurden bei Kindern, die seit 1985 geboren wurden und deren Geburtsort bekannt ist, in der ganzen Schweiz 2925 Krebsfälle diagnostiziert, davon 573 Leukämien. Die beobachteten und errechneten Risiken für die einzelnen Zonen variierten unterschiedlich zu denjenigen für die Referenzzone IV: so wurden in Zone I acht Fälle von Leukämie in der besonders strahlenempfindlichen Altersgruppe von 1 bis 4 Jahren diagnostiziert, verglichen mit 6,8 erwarteten Fällen (95%iger statistischer Vertrauensbereich: 3,4–13,7 erwartete Fälle). Zwölf Fälle wurden in Zone II festgestellt, verglichen mit 20,3 erwarteten Fällen, und in Zone III waren es 31 beobachtete und 28,3 erwartete Fälle. Keine der Analysen ergab eine statistisch signifikante Abweichung beim Risiko für eine Leukämie- oder Krebserkrankung.

Matthias Egger, Direktor des ISPM, wies darauf hin, dass die geringen Abweichungen vom gesamtschweizerischen Risiko am ehesten zufallsbedingt sind. Aufgrund der kleinen Fallzahlen sei die statistische Unsicherheit relativ gross. Trotzdem sei die statistische Basis gross genug, um die Studie als robust zu bezeichnen, betonte Egger an der Medienkonferenz vom 12. Juli 2011 in Bern. Das Resultat von Canupis steht im Einklang mit der grossen Mehrheit der rund 50 internationalen Studien, die in den letzten 30 Jahren durchgeführt wurden. Als eine der weltweit ersten Studien berücksichtigte die Canupis-Studie zudem den Wohnort der Kinder bei der Geburt. Insbesondere in der vorgeburtlichen Entwicklung und während der ersten Lebensjahre sind Kinder viel strahlenempfindlicher als Erwachsene.

Canupis-Resultate im Einklang mit Überwachung der Radioaktivität

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) überwacht und publiziert regelmässig die Radioaktivität in der Umgebung von Schweizer Kernkraftwerken. Direkte Anwohner werden pro Jahr Emissionen von weniger als 0,01 Millisievert (mSv) ausgesetzt. Das ist über 500 Mal weniger als die durchschnittliche Strahlenexposition pro Einwohner und Jahr aus Radongas, kosmischer und terrestrischer Strahlung sowie medizinischen Anwendungen. Laut dem Canupis-Team stehen seine Resultate somit im Einklang mit den Radioaktivitätsdaten des BAG.

Die Canupis-Studie wurde vor drei Jahren lanciert. Die zuvor veröffentlichte deutsche KiKK-Studie (Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken) zeigte eine Verdopplung von Leukämiefällen bei Kindern im Umkreis von 5 km um Kernkraftwerke in Deutschland. Die Resultate der KiKK-Studie stechen im Vergleich mit anderen Untersuchungen heraus (siehe Kasten). Im Gegensatz zu Canupis handelt es sich bei KiKK um eine Fall-Kontroll-Studie, bei der gewisse methodische Mängel kritisiert wurden, etwa bei der Bestimmung der Kontrollgruppen. Das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz hielt im September 2009 bei seiner abschliessenden Beurteilung der KiKK-Studie ebenfalls fest, dass die von den Kernkraftwerken abgegebene Strahlung nicht als Ursache für die erhöhte Erkrankungshäufigkeit in Frage komme, da sie um mindestens einen Faktor 1000 zu niedrig sei, um den Befund erklären zu können.

Nach 30 Jahre Forschung bleiben die Ursachen für die Häufung von Kinderkrebs unklar
Epidemiologische Studien wie zum Beispiel Canupis oder KiKK erforschen generell keine ursächlichen, sondern statistische Zusammenhänge. Die Frage, ob in der Umgebung von Kernanlagen vermehrt Krebserkrankungen auftreten, rief in den frühen 1980er-Jahren erstmals in Grossbritannien Besorgnis hervor. In der nordenglischen Ortschaft Seascale in unmittelbarer Nachbarschaft der Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield waren gehäuft Fälle von Kinderleukämie beobachtet worden. Seit der Veröffentlichung dieses Berichts sind zahlreiche epidemiologische Studien in verschiedenen Ländern durchgeführt worden, so unter anderem in Frankreich, Finnland, Deutschland, Japan, Schweden, Kanada und den USA. Die britische Behörde Committee on Medical Aspects of Radiation in the Environment (Comare) leistet einen wichtigen Beitrag zur kontinuierlichen Überwachung der Lage in Grossbritannien. Der 14. Comare-Bericht vom Frühjahr 2011 enthält eine umfangreiche Übersicht über die bisher weltweit durchgeführten Untersuchungen (Committee on Medical Aspects of Radiation in the Environment [Comare], 2011: Further Consideration of the incidence of childhood leukaemia around nuclear power plants in Great Britain. 14th report).
Einige Einzeluntersuchungen deuteten auf eine Häufung von Krebsfällen in der Nähe von Kernanlagen hin. Aber lediglich für drei Standorte gilt ein erhöhtes Krebsrisiko in der Nähe der Anlagen zumindest für bestimmte Zeiträume als statistisch gesichert. Es sind dies die beiden britischen Wiederaufarbeitungsanlagen in Sellafield und Dounreay und das norddeutsche Kernkraftwerk Krümmel. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Strahlenbelastung in der Umgebung der jeweiligen Anlagen und den Leukämiefällen konnte in all den Untersuchungen nie hergestellt werden. Die durch die Kernanlagen abgegebene Strahlendosis lag jeweils um Grössenordnungen tiefer als die von natürlichen Strahlenquellen. Somit geht die Ursachenforschung weiter: im Vordergrund stehen heute Hypothesen, wonach Kinderleukämien durch virale Infektionen ausgelöst werden und Bevölkerungsbewegungen und -durchmischungen für das räumlich und zeitlich gehäufte Auftreten der Krankheit verantwortlich sind. Zahlreiche Studien konnten diesen als «population mixing» bezeichneten Effekt nachweisen (Kinlen L., 2011: Childhood leukaemia, nuclear sites, and population mixing. Br. J. Cancer 104: 12-18).

Leukämie
Es gibt verschiedene Arten von Leukämie. Mit 80% der Fälle ist die akute lymphatische Leukämie die in der Schweiz am häufigsten vorkommende Art. 15% gehören zur Gruppe der akuten myeloischen Leukämie. Aus der Forschung ist bekannt, dass diese letzte Gruppe weit stärker durch ionisierende Strahlung ausgelöst wird als die Gruppe der akuten lymphatischen Leukämien. Wenn tatsächlich ein Zusammenhang zwischen Kernkraftwerken und Kinderleukämie bestehen würde, müsste laut Fachärzten eine viel grössere Zahl myeloischer Leukämien erwartet werden, als dies effektiv der Fall ist.
Die akute lymphatische Leukämie ist die häufigste Krebserkrankung bei Kindern. In der Schweiz erkranken jährlich etwa 50–60 Kinder daran, am häufigsten zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr. Heute können dank Chemotherapie 4 von 5 Kindern mit akuter lymphatischer Leukämie langfristig geheilt werden (Forum Medizin und Energie, 2009: Kinderleukämie und Kernkraftwerke – [K]ein Grund zur Sorge?).

Quelle

M.Re./R.B. nach Universität Bern, Medienkonferenz und Medienmitteilung, 12. Juli, sowie International Journal of Epidemiology, Online-Ausgabe vom 12. Juli 2011

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