Newcleo: Entwicklung eines Reaktors der Generation IV mit Schweizer Beteiligung

Das britische Unternehmen Newcleo entwickelt einen bleigekühlten Schnellen Reaktor der Generation IV, der inhärent sicher ist. Diese Reaktoren funktionieren bei niedrigem Druck und können mit Atomabfall herkömmlicher Kernkraftwerke betrieben werden. Wie wird die Finanzierung sichergestellt, wie langwierig ist das Zulassungsverfahren und was sind die Chancen und Risiken dieser Technologie?

31. Okt. 2024
Die Firmengründer (v.l.n.r.): Stefano Buono, Luciano Cinotti und Elisabeth Rizzotti.
Die Firmengründer (v.l.n.r.): Stefano Buono, Luciano Cinotti und Elisabeth Rizzotti.
Quelle: Newcleo

Weltweit befinden sich laut der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) über 80 verschiedenen Auslegungen von kleinen, modularen Reaktoren (SMRs) respektive Reaktoren der Generation IV in Entwicklung. Es herrscht eine regelrechte Aufbruchsstimmung, doch die Herausforderungen sind gross und vielfältig.

Der Reaktorentwickler Newcleo ist eines der innovativen Unternehmen, das sich diesen Herausforderungen stellt. Es entwickelt bleigekühlte Schnelle Reaktoren (Lead-cooled Fast Reactor, LFR) der Generation IV, die zu den fortgeschrittenen, modularen Reaktoren (Advanced Modular Reactors, AMRs) zählen. Das 2021 gegründete Unternehmen wird vom italienischen Physiker Stefano Buono geleitet. Er war lange Jahre auch am europäischen Kernforschungszentrum Cern tätig. Wir haben uns mit ihm unterhalten. Da es nicht alle der 80 Auslegungen auf den Markt schaffen werden, wollten wir auch herausfinden, mit welchen Strategien sein Unternehmen die Schwierigkeiten meistern und den Markteintritt bewerkstelligen will.

Die Mission: fossile Brennstoffe durch Kernenergie ersetzen

Stefano Buono ist Nuklearunternehmer geworden, um sich den Herausforderungen der Dekarbonisierung zu stellen: «Fossile Brennstoffe machen heute noch immer 80% der Energieerzeugung aus», hält er fest und ergänzt: «Wir werden verschiedene Technologien benötigen, um fossile Brennstoffe zu ersetzen.» Erneuerbare Energien würden zwar wertvolle Dienste leisten, seien aber nur ein Teil der Lösung für verschiedene Anwendungen.

Die Kernenergie kann Stromnetze stabilisieren und dabei helfen, grössere Anteile an erneuerbaren Energien zu integrieren. Zudem liefert sie zuverlässig Strom rund um die Uhr. Einige Kernreaktoren – wie jener, den Newcleo entwickelt – können nicht nur Strom, sondern auch Prozesswärme erzeugen. Diese lässt sich dann zur Dekarbonisierung schwer reduzierbarer Emissionen in der Industrie einsetzen. «Luciano Cinotti, Elisabeth Rizzotti und ich haben uns 2021 entschlossen, Newcleo als innovatives Unternehmen zu gründen, um die Errungenschaften der Kerntechnik zu nutzen», erklärt der CEO Buono.

«Newcleo arbeitet an der Entwicklung, dem Bau und dem Betrieb von fortgeschrittenen, modularen Reaktoren der Generation IV, die mit flüssigem Blei gekühlt und mit wiederaufgearbeitetem Atommüll betrieben werden», umschreibt Buono das Arbeitsgebiet seiner Firma. Aktuell arbeiten über 800 hochqualifizierte Mitarbeitende bei Newcleo an den Standorten in Belgien, Frankreich, Grossbritannien, Italien, der Schweiz und der Slowakei. Nebst den Entwicklungsarbeiten an den eigenen Reaktoren unterstütze Newcleo auch den Aufbau von Lieferketten für SMRs und AMRs in Europa und darüber hinaus.

Grosse Herausforderungen auf dem Weg zur Markteinführung

«Die Gründung eines Kernenergieunternehmens ist aufgrund der strengen Regulierung der Branche, des hohen Kapitalbedarfs und der langfristigen finanziellen Erträge ein äusserst komplexes Unterfangen», benennt Buono die wichtigsten Herausforderungen.

Buono konstatiert, dass es in der Öffentlichkeit nach Tschernobyl und Fukushima jahrzehntelange Fehlinformationen gab, mit denen die Angst vor Kernkraftwerken verstärkt wurde. Für Buono ist deshalb «das Vertrauensdefizit in den Nuklearsektor» eine zu überwindende Hürde. «Neben der Bewältigung technischer und finanzieller Herausforderungen ist es von entscheidender Bedeutung, Vertrauen bei allen unseren Interessengruppen aufzubauen», sagt Buono und ergänzt: «Durch den Aufbau dieses Vertrauens wird sichergestellt, dass Investoren uns unterstützen, Unternehmen unsere Energie nachfragen, Regierungen Reaktorinstallationen erleichtern und die Öffentlichkeit unsere Anlagen in ihren Gemeinden willkommen heisst.»

Ohne finanzielle Mittel läuft gar nichts

Während Investitionen in grüne Technologien wie Photovoltaik und Windräder eine breite finanzielle Unterstützung erfahren, muss sich die Kernenergie dieses Recht hart erkämpfen. Im Juni 2024 forderte die europäische Nuklearindustrie daher von der Europäischen Union in einem Manifest eine Chancengleichheit: Alle Technologien, die zum Erreichen von Netto-Null-Emissionen beitragen, sollen gleichbehandelt werden. Auch die Nuklearindustrie und insbesondere innovative nukleare Technologien soll Zugang zu EU-Finanzmitteln und Forschungsunterstützung erhalten.

Unter neuer Führung hat die Europäische Investitionsbank (EIB) – der weltweit grösste multilaterale Darlehensgeber – im Frühjahr 2024 seine Bereitschaft signalisiert, neue Nuklearprojekte zu finanzieren. Zuvor hatte die EIB, unter anderem wegen des Widerstands von Ländern wie Deutschland, seit 1987 neue Projekte zur Stromerzeugung aus Kernenergie gemieden. Buono begrüsst diesen Entscheid der EIB und hofft, dass weitere «internationale Investitionsbanken ihre Finanzkraft nutzen, um die Kernenergie zu unterstützen».

Der erfolgreiche Unternehmer verkaufte 2018 sein Nuklearmedizin-Start-up Advanced Accelerator Applications für EUR 4 Mrd. an Novartis. Seither ist er aktiv, um der Kernenergie ein positives Image zu verschaffen. 2021 gründete er Newcleo und holte zusammen mit seinen Partnern mehr als EUR 400 Mio. an privaten Finanzmitteln ein. Der prognostizierte Umsatz der Newcleo-Gruppe beträgt EUR 50 Mio. für das Jahr 2024. «Wir sind gerade dabei eine weitere Milliarde Euro aufzubringen», verrät er. «Wir haben seit unserem Start ein starkes Interesse von Investoren erlebt und sind zuversichtlich, dass dieser Enthusiasmus auch in Zukunft anhalten wird, da unser Unternehmen schnell wächst und rasch wichtige Meilensteine erreicht.

Erster Testreaktor von Newcleo wird in Frankreich gebaut

Im Jahr 2023 wurde Newcleo als einer der Gewinner der Projektausschreibung «Réacteurs nucléaires innovants» des Investitionsplans «France 2030» der französischen Regierung ausgezeichnet. Somit kann das Unternehmen seinen 30-MWe-Testreaktor LFR-AS-30 in Frankreich bauen und wird dazu EUR 1,2 Mrd. investieren. Er soll bis 2031 fertiggestellt sein. Weitere EUR 1,8 Mrd. an Investitionen fliessen in den Bau und die Inbetriebnahme einer Pilotanlage in Frankreich zur Herstellung von Uran-Plutonium-Mischoxidbrennstoff (MOX). Dieser wird für die Versorgung der Schnellen Reaktoren benötigt.

Alberto De Min, Chief Business Officer / Managing Director Switzerland von Newcleoleo, présente le concept de réacteur lors d’une conférence.
Alberto De Min, Chief Business Officer / Managing Director Switzerland von Newcleo, stellt das Reaktorkonzept an einer Konferenz vor. (Foto: Newcleo via X)
Quelle: Newcleo via X

Der Betrieb des ersten kommerziellen 200-MWe-Reaktors LFR-AS-200 ist für 2033 geplant. Er soll für die Strom- und Wärmeerzeugung eingesetzt werden. Die Prozesswärme soll verschiedenen Kunden in den Industriesektoren offenstehen.

Kooperationen und Übernahmen bringen Newcleo weiter

Die grossen Kernkraftwerksneubauten in Europa haben gezeigt, wie wichtig der Wiederaufbau einer funktionierenden Lieferketten für das Gelingen eines Neubauprojekts ist. Buono ist sich dessen sehr wohl bewusst: «Unsere Strategie konzentriert sich auf den Aufbau einer vertikal integrierten Lieferkette durch die Übernahme von Herstellern wichtiger Reaktorkomponenten. Dadurch können wir die Zusammenarbeit verbessern, die Kosten senken und eine effiziente Lieferkette aufbauen.» Sein Unternehmen hat im dritten Quartal 2023 beispielsweise die Rütschi-Gruppe übernommen, den Schweizer Pumpenhersteller für Kernkraftwerke. Ebenfalls wurden die italienischen Firmen S.R.S. Servizi di Ricerche e Sviluppo und Fucina Italia übernommen, die seit langem in der LFR-Industrie tätig sind und wichtige Komponenten herstellen. «Im Einklang mit dieser Strategie prüfen wir ständig Möglichkeiten für Fusionen und Übernahmen», äussert sich Buono der zudem über 70 Partnerschaften und Kooperationen mit der gesamten Nuklearindustrie pflegt.

Eine proaktive Zusammenarbeit mit Zulassungsbehörden hilft Risiken zu mindern

Zulassungsverfahren im Nuklearbereich sind langwierig. Zulassungsbehörden sind sich dieses Problems bewusst und sind bestrebt, die Verfahren zu straffen. Auch Newcleo selbst kann dazu beitragen und arbeitet deshalb mit den französischen Behörden zusammen, um die erforderlichen behördlichen Genehmigungen zügig zu erhalten. «Durch die proaktive Zusammenarbeit mit den Zulassungsbehörden verkürzen wir die Zeit, die normalerweise für die Erteilung von Genehmigungen benötigt wird, und stellen sicher, dass alle erforderlichen Genehmigungen rechtzeitig vor dem Bau vorliegen», versichert Buono. Newcleo habe im Juni 2024 die von den französischen Behörden für kleine, modulare Reaktorprojekte eingerichtete Vorbereitungsphase auf die Lizenzierung abgeschlossen. Diese Vorlizenzierung soll die eigentliche Prüfung von Zulassungsanträgen erleichtern, absichern und beschleunigen. «Dieser Erfolg bildet eine solide Grundlage für künftige internationale Einsätze», äussert sich Buono hinsichtlich Zulassung in anderen Ländern.

LFRs bieten eine Reihe von Vorteilen, …

LFRs verfügen im Vergleich zu anderen Technologien über folgende Sicherheitsvorteile: Sie arbeiten bei atmosphärischem Druck. Blei reagiert nicht wie Natrium auf Luft und Wasser und das Kühlmittel hat einen sehr hohen Siedepunkt. «Diese Elemente in Kombination mit unseren passiven Sicherheitsmerkmalen reduzieren die Auswirkungen von Fehlfunktionen erheblich», hält Buono fest und ergänzt: «Darüber hinaus ermöglicht uns ein schnelles Neutronenspektrum, den Brennstoffkreislauf zu schliessen.» In Russland steht mit dem BREST-OD-300 bereits ein bleigekühlter Schneller Reaktor in Bau. Die Auslegung dieses Reaktortyps wurde somit über Jahrzehnte hinweg optimiert.

«Wir von Newcleo haben ein einfach aufgebautes und kompaktes 200-MWe-Modul entworfen. Es besitzt eine Höhe und einen Durchmesser von rund 6 Meter und soll in Serie hergestellt und danach zur Installation vor Ort transportiert werden», erklärt Buono. Alle diese Vorteile würden zu niedrigen Installationskosten und wettbewerbsfähigen Energiepreisen führen.

Die hochmoderne Anlage «CAPSULE» dient Korrosionstests von Materialien in stehendem Blei und besitzt eine fortschrittliche Temperatur- und Sauerstoffgehaltskontrolle.
Die hochmoderne Anlage «CAPSULE» dient Korrosionstests von Materialien in stehendem Blei und besitzt eine fortschrittliche Temperatur- und Sauerstoffgehaltskontrolle.
Quelle: Newcleo

… aber es gibt auch technische Herausforderungen

Die Werkstoffe von bleigekühlten Reaktoren sind Erosion und Korrosion ausgesetzt, was bei deren Entwicklung beachtet wird. «Wir haben ein breit angelegtes Forschungs- und Entwicklungsprogramm (F&E-Programm) ins Leben gerufen. Es dient uns dazu, Technologien zu konsolidieren und Lücken im Hinblick auf den Einsatz unseres Reaktors zu schliessen», erklärt Buono. Im Rahmen dieses Programms werden auch die technischen Lösungen von Newcleo validiert und neuartige Werkstoffe und Beschichtungen entwickelt.

Bei der Materialwahl und Tests zu deren Haltbarkeit verfolgt Newcleo einen schrittweisen Ansatz. Im F&E-Programm werden zuerst Materialien gründlich getestet, die bereits für Blei oder ähnliche Reaktoren qualifiziert sind. «Mit CAPSULE haben wir 2023 eine Anlage für Korrosionstests mit ruhendem Blei, entworfen, fertigen lassen und installiert. Sie ist nun in Betrieb und bietet eine fortschrittliche Kontrolle der Temperatur und der Sauerstoffkonzentration. 2024 haben wir den Bleikreislauf CORE-1 herstellen lassen und in Betrieb genommen. Diese Anlage dient der Untersuchung von Korrosions- und Erosionsphänomenen, die durch fliessendes Blei verursacht werden», erklärt Buono.

Die beiden Anlagen sind im italienischen Brasimone (liegt zwischen Bologna und Florenz) installiert. «Wir planen dort einige weitere nicht nukleare Anlagen und werden 2026 unseren ersten nicht nuklearen Prototypen bauen und mit diesem viele Erfahrungen gewinnen», äussert sich Buono.

Einzigartige Möglichkeiten durch eigene MOX-Brennstofffabrik

«Als wir mit Newcleo begannen, wussten wir, dass ein Schlüsselelement unserer Lösung darin bestehen musste, den Brennstoffkreislauf zu schliessen», hebt Buono hervor. Die radioaktiven Abfälle seien neben Atomunfällen der Hauptkritikpunkt an der Nutzung der Kernenergie. «Mit dem weltweiten Ausbau der installierten Kapazität an Kernenergie muss die Branche Lösungen für den Umgang mit verbrauchtem Brennstoff haben und gleichzeitig die Verfügbarkeit von und die Versorgung mit frischem Kernbrennstoff sicherstellen.» Geologische Tiefenlager seien zudem nicht in allen Ländern gleich stark gesellschaftlich akzeptiert.

CEO Stefano Buono
CEO Stefano Buono
Quelle: Newcleo

Die Verwendung von Uran-Plutonium-Mischoxidbrennstoff (MOX), stellt gemäss dem Physiker eine effiziente Lösung dar, um das Abfallthema anzugehen, das Proliferationsrisiko zu mindern und die Notwendigkeit neuer Uranminen zu vermeiden. Zur MOX-Herstellung werde Newcleo in manchen Ländern verbrauchte Kernbrennstoffe oder sogar bereits abgetrennte und daher verfügbare Kernmaterialien wie Plutonium nutzen. «Der Besitz einer eigenen Fabrik für Brennstoffe gehört zu unserer Strategie, die kritischsten Teile unserer Lieferkette in die Struktur der Gruppe zu integrieren, um sicherzustellen, dass die Schlüsselelemente unseres operativen Erfolgs unter unserer Kontrolle sind», sagt Buono. Die Kombination von schnellem Reaktor und MOX-Brennstofffabrik unter einem Firmendach eröffne Newcleo einzigartige Möglichkeiten.

Verfasser/in

B.G.

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