Naturschutz und Wohlstand: Norwegen prüft Einstieg in die Kernenergie
Norwegen benötigt zukünftig viel mehr Strom, der weiterhin umweltfreundlich sein soll. Die Möglichkeiten der Wasserkraft sind grösstenteils ausgeschöpft und Solar- und Windprojekte stossen nicht selten auf Widerstand. Deshalb plant Norsk Kjernekraft, Strom mit kleinen Kernkraftwerken zu produzieren.
Wir haben uns mit Steffen Oliver Sæle von Norsk Kjernekraft unterhalten. Der Chief Technology Officer (CTO) des Kernenergieunternehmens arbeitet mit viel Leidenschaft daran, dass in Norwegen Privathaushalte und Industrie auch in Zukunft genügend Strom haben werden. Er ist sich seiner Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen bewusst – gerade, wenn es darum geht, die Umwelt möglichst wenig zu beeinträchtigen und zu schützen.
Norwegen hat eines der saubersten Stromnetze der Welt. Rund 90% des Stroms stammen aus Wasserkraft und 10% aus Windenergie. Das Stromnetz deckt jedoch nur etwa die Hälfte des norwegischen Primärenergieverbrauchs ab. Norwegen hat auch eine Gas- und Erdölindustrie. «Eine wachsende Bevölkerung und das Aufkommen neuer Industrien erhöhen den Bedarf an sauberer Energie», sagt Steffen Oliver Sæle.
Experten gehen davon aus, dass der Bedarf an sauberer Energieerzeugung bis 2050 um etwa 200 bis 300% steigen wird. Dies stellt das ganze Land vor Herausforderungen. «Dieser Bedarf ist enorm. Wir werden eine stark skalierbare Energiequelle mit einem sehr geringen Fussabdruck benötigen, um die Natur in Norwegen zu erhalten und genug Strom zu haben», äussert sich der CTO nachdenklich.
Wasserkraft ist in Norwegen weitgehend ausgeschöpft
Es wäre naheliegend, die saubere Wasserkraft weiter auszubauen. Jedoch «ist der grösste Teil des Potenzials bereits ausgeschöpft», erklärt Sæle. Auch strengere Umweltauflagen im Vergleich zum letzten Jahrhundert setzen dem Bau neuer Wasserkraftwerke Grenzen. Laufwasser- und Pumpspeicherkraftwerke können zwar noch geringfügig ausgebaut werden, damit lässt sich aber bei Weitem nicht der zukünftige Strombedarf decken. Was nun? Es gibt Stimmen in Norwegen, welche die Fotovoltaik und Windenergie stark ausbauen möchten. Windenergie kann ein Konfliktpotenzial haben, wenn es um die Natur und Tierwelt geht. Dies hat ein Windpark auf der norwegischen Halbinsel Fosen gezeigt. Für Steffen Oliver Sæle gibt es eine bessere Lösung: Kernkraftwerke. Bei diesem Vorhaben erhält er auch Unterstützung von der Schweizer Firma Apollo Plus.
Rolle von Apollo Plus
Unterstützung enthält Norsk Kjernekraft auch aus der Schweiz. Die Firma Apollo Plus begleitet das SMR-Projekt als strategische Partnerin seit der Gründung und ergänzt das norwegische Team mit internationaler Erfahrung, Wissen und Expertise im Kernenergiebereich. Dies rund um die Planung, Errichtung, Betrieb bis hin zu Stilllegung von Kernkraftwerken. Zusätzlich bringt Apollo Plus sein globales Netzwerk von Schlüsselakteuren auf dem Markt mit ein. Mit persönlicher Leidenschaft und Überzeugung treiben die Mitarbeitenden von Apollo Plus gemeinsam mit Norsk Kjernekraft den Einstieg Norwegens in die kommerzielle Kernkraft voran.
Kernkraftwerke bieten zahlreiche Vorteile
«Die Kernenergie stärkt die Versorgungssicherheit, verringert die Eingriffe in die Natur und stabilisiert die Strompreise», hält Steffen Oliver Sæle fest. Zusammen mit seiner Arbeitgeberin Norsk Kjernekraft plant er den Bau und Betrieb von Kernkraftwerken in Norwegen. «Als mögliche Standorte untersuchen wir vorzugsweise Gebiete in der Nähe bestehender oder neuer Industrien», sagt der CTO: «Der Energietransport vom Erzeuger zum Grossverbraucher kann so effizient und umweltfreundlich gestaltet werden, da weniger Netzausbau erforderlich ist.»
Kernkraftwerke haben zudem eine hohe Verfügbarkeit und liefern planbar sehr grosse Mengen an Energie, was sie für Industrieunternehmen sehr attraktiv machen. «Rechenzentren, Produktionsanlagen für Wasserstoff und Wasserstoffderivate sowie die Stahlherstellung und weitere Betriebe profitieren nicht nur von einer zuverlässigen Stromversorgung, sondern könnten auch Prozesswärme und überschüssige Wärme aus einem Kernkraftwerk nebenan nutzen», nennt Sæle weitere Vorteile. Das alles bei einem sehr geringen Platzbedarf.
SMRs sind gut skalierbar und leichter zu finanzieren
Bei seiner täglichen Arbeit hat Sæle festgestellt, dass viele Unternehmen und sehr vermögende Privatpersonen die Vorteile der Kernkraft anerkennen und diese nutzen wollen. Das Interesse sich mit Investitionen und Know-how an der Entwicklung norwegischer Kernkraftwerke zu beteiligen, ist daher gross. Norsk Kjernekraft möchte in erster Linie kleine, modulare Reaktoren (SMRs) einsetzen. Sie erfordern keine so grossen Investitionen, wie grosse Leistungsreaktoren, was die Einstiegshürde niedriger hält. Sie lassen sich flexibel in Industrienähe platzieren und dem Bedarf anpassen, indem mehrere SMRs an einem Ort gebaut werden können.
Auch wenn Sæle mit grosser Leidenschaft die Kernkraft voranbringen will, bleibt er realistisch. Er ist überzeugt davon, dass Norwegen in Zukunft alle sauberen Energiequellen benötigen wird: Zusätzlich zur Kernkraft auch mehr Wasserkraft, mehr Solarenergie und mehr Windkraft. Da Solar- und Windkraft unstetig produzieren, führen sie aber zu schwankenden Preisen. Zudem erfordern sie einen enormen Ausbau der Netzverbindungen, weil Strom oftmals nicht dort erzeugt wird, wo er benötigt wird. Hinzu kommt, dass auch der Ressourcenverbrauch höher ist als bei der Kernkraft, wie beispielsweise der Platzbedarf für die Erzeugungsanlagen.
Zahlreiche Gemeinden sind an Kernkraftwerken interessiert
Einer der Hauptgründe, weswegen norwegische Gemeinden auf Kernenergie setzen möchten, sieht Sæle im sehr geringen ökologischen Fussabdruck dieser Technologie. Hinzu kommt die Aussicht auf die Sicherung lokaler Arbeitsplätze für viele Generationen im Kernkraftwerk oder in den Industrieanlagen, die mit Kernenergie versorgt werden. «Dutzende an Kernenergie interessierte Gemeinden, Landkreisen und Regionen haben von sich aus Norsk Kjernekraft kontaktiert», betont Sæle.
Das 2022 gegründete Unternehmen konnte so mehrere geeignete potenzielle Standorte für SMRs in allen Provinzen Norwegens identifizieren. «Die Akzeptanz der Einwohner einer potenziellen Gastgemeinde ist ein zentraler Punkt für uns», hält Steffen Oliver Sæle fest: «Nur wenn diese Akzeptanz vorhanden ist, stufen wir einen Standort als geeignet ein.» Von anderen Energieprojekten wurde die Lehre gezogen, dass die Öffentlichkeit schon früh einbezogen werden muss. Der CTO ist immer wieder selbst erstaunt, wie offen die Bevölkerung gegenüber der Kernkraft ist. «Akzeptanz erreichen wir nur mit einer offenen und transparenten Kommunikation.» Norsk Kjernekraft räumt offen ein, dass der Aufbau der kommerziellen Kernkraft in Norwegen Zeit benötigt, und das Unternehmen kommuniziert zudem angemessen über Risiken der Technologie. «Ein Null-Risiko gibt es nicht, auch wenn die Kernenergie statistisch ebenso sicher ist wie andere kohlenstoffarme Energiequellen», sagt Sæle.
Vielversprechende Standorte für SMRs liegen in den Gemeinden Halden, Aure, Heim, Narvik, Mo i Rana, Vardø, Austrheim und Øygarden, um nur einige zu nennen. Auch in den Provinzen Agder und Telemark gibt es laut Sæle mehrere Gemeinden mit aussichtsreichen Standorten. In Austrheim führt Norsk Kjernekraft Vorarbeiten für eine Machbarkeitsstudie zum Einsatz von SMRs durch. Als Partner mit im Boot ist die erfahrene Investitions- und Projektentwicklungsorganisation DL Energy aus Südkorea. Sie hat schon zahlreiche Kernkraftwerke gebaut und glaubt an das Potenzial und die Zukunft der Kernkraft in Norwegen. Ein weiteres Einsatzgebiet von SMRs in Norwegen ist die Versorgung von stromhungrigen Rechenzentren für Anwendungen im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI).
Überzeugungsarbeit beim norwegischen Parlament notwendig
Die Kernkraft ist bei den Norwegerinnen und Norwegern eine sehr beliebte Energiequelle. Dies zeigen sowohl Umfragen als auch die grosse Unterstützung, die Norsk Kjernekraft von Einrichtungen und Gemeinden erhält. «Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass die Kernenergie sogar die Wasserkraft überholt hat und nun die beliebteste Energiequelle in der Bevölkerung ist», sagt Sæle und ergänzt: «Den Grund dafür sehe ich darin, dass die Medien in den letzten Jahren faktenbasierter, neutraler und sehr viel häufiger über die Kernenergie berichtet haben.» Sæle möchte durch seinen persönlichen Einsatz diese hinzugewonnene Unterstützung auch in den nächsten Jahren aufrechterhalten.
In Norwegen Atomkraftwerke zu bauen, führt aber auch zu kritischen Meinungen. Oftmals ist es gemäss Sæle eine fundamental ablehnende Haltung ohne weitere Begründung. Wenn konkretere Kritik geäussert wird, sind die angesprochenen Punkte ähnlich wie jene, die in der Schweiz auch zu hören sind. Zumeist lässt sich diese Kritik mit Fakten ausräumen. Daran arbeiten nicht nur Norsk Kjernekraft, sondern auch Universitäten, Gemeinden und wichtige Interessengruppen, welche die Vorteile der Kernenergie kennen. Beispielsweise wird kritisiert, dass Norwegen noch keine Erfahrung mit der Kernkraft habe. «Dies stimme so nicht!», sagt Sæle. Das norwegische Institute for Energy Technology (IFE) betrieb in der Vergangenheit vier Forschungsreaktoren und konnte dabei wertvolle Erfahrungen sammeln. Einen Kernreaktor zur kommerziellen Stromerzeugung gab es in Norwegen aber bis anhin nicht.
Ein hartes Stück Arbeit sieht der CTO noch auf sein Unternehmen zukommen, wenn es um die oberste politische Ebene in Norwegen geht. Der Enthusiasmus für die Kernkraft sei dort noch sehr ausbaufähig. Sæle stimmt es positiv, dass mehrere der grössten politischen Parteien in letzter Zeit ihre Unterstützung für die Kernenergie bekundet haben. Wenn es so weitergeht, könnte es 2024/2025 so weit sein, dass die Kernkraft auch auf eine breite politische Unterstützung auf nationaler Ebene zählen darf.
Erster SMR könnte 2035 in Betrieb sein
Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) hält in ihrem «Meilenstein-Ansatz» fest, dass ein engagiertes Neueinsteigerland um die 10 bis 15 Jahre braucht, um sein erstes Kernkraftwerk in Betrieb zu nehmen. Norwegen verfügt jedoch bereits über einen Grossteil des erforderlichen Fachwissens, unter anderem von den Forschungsreaktoren her», entgegnet Sæle. «Zudem gibt es bereits sowohl eine Infrastruktur als auch eine Atomaufsicht, die für ein solches Vorhaben erforderlich sind.»
Andere Länder mit SMR-Projekten wollen ihren ersten Reaktor zu Beginn der 2030er-Jahre in Betrieb nehmen. Norsk Kjernekraft hat nicht die Ambitionen, zu den ersten Anwendern dieser neuen Technologie zu gehören. «Unser Unternehmen will vielmehr von diesen ersten Projekten lernen», sagt Sæle. Ein Baubeginn in Norwegen um 2030 und eine Inbetriebnahme des ersten SMR etwa 2035 wird zwar angestrebt. Ob dies gelingt, hängt allerdings von verschiedenen Faktoren ab, zum Beispiel wie schnell ein geeigneter Hersteller seinen SMR zur Marktreife entwickelt und wie gut die erforderlichen Lieferketten in Norwegen aufgebaut werden können.
Selbst wenn das Projekt etwas länger als geplant dauern würde, kommt es noch rechtzeitig: Der grösste Anstieg der Stromnachfrage in Norwegen wird ab Mitte der 2030er- bis Anfang der 2040er-Jahre erwartet. «Mit dem Start unseres Kernkraftwerksprogramms Anfang der 2020er-Jahre haben wir also gute Ausgangsbedingungen», hält Sæle fest: «Meine Freude wird riesengross sein, wenn wir mit unseren Kernkraftwerken zu einer gesicherten Energiezukunft Norwegens beitragen können.»
Verfasser/in
B.G.
Quelle
Gespräch mit Steffen Oliver Sæle von Norsk Kjernekraft
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