Kernfragen: Globale Perspektiven auf die Atomkraft
Teil 1 unser Interviewserie zum Ansehen der Kernenergie weltweit
In unserer Interviewserie gehen wir der Frage nach, wie die Kernenergie in anderen Ländern betrachtet wird. Wir sprechen dazu mit aus dem Ausland stammenden Mitarbeitenden, Expertinnen und Experten der Schweizer Nuklearbranche über ihre Erfahrungen und die Einstellungen der Bevölkerung zur Kernenergie in ihren Heimatländern. Warum ist das Image der Atomkraft in anderen Ländern anders und woran liegt das? Wir beginnen heute mit Mark Whitwill aus England und Elena Raetz aus Russland.
Elena Raetz, Leiterin der QM-/UM-Fachstelle, Kernkraftwerk Gösgen, Russland
Nach meinem Abschluss der technischen Universität für Flugwesen in Moskau habe ich als Dipl. Ingenieurin Metallurgie neun Jahre in der Entwicklung und Forschung der Reaktoren Typ RBMK gearbeitet. Mein ehemaliger Arbeitgeber ist spezialisiert auf Reaktortechnologien und eines der grössten nuklearen Design- und Forschungszentren in Russland. Ich spezialisierte mich auf dem Gebiet der Forschung der mechanisch-physikalischen Eigenschaften von Reaktormaterialien.
Ich stamme aus einer «nuklearen» Familie. Alle, angefangen mit meinen Grosseltern, sind sehr eng mit der Kerntechnik verbunden. Es gab keine andere Wahl. Und ich bin glücklich darüber, dass auch ich die Familientradition fortgesetzt habe.
Nach meiner Ankunft in der Schweiz im Jahr 1993 habe ich ein Nachdiplomstudium in Umwelttechnik an der FHNW Muttenz und einige Weiterbildungen in Qualitätsmanagement abgeschlossen. Im Jahr 2008 habe ich im Kernkraftwerk Gösgen angefangen.
Sie kommen aus Russland. Wie ist die der Status der Kernenergie dort, und wie wird sie Ihrer Meinung nach in der Öffentlichkeit wahrgenommen?
Die Kernenergie ist ein unentbehrlicher Bestandteil der wirtschaftlichen Entwicklung und hat viel Zukunft in meinem Heimatland. Heutzutage werden verschiedene nukleare Themen intensiv verfolgt und weiterentwickelt:
- Kernanlagen für die verschiedenen Zwecke (Energieproduktion, Forschung usw.)
- Geschlossene Brennstoffkreislauftechnologien, Entsorgung ausgedienter Brennelemente und radioaktiver Abfälle
- Lokale Energieproduktion (stationäre, transportable, schwimmende, modulare Kernreaktoren)
- Neue Algorithmen und Programme zur Berechnung des sicheren Betriebs
Zahlreiche Hochschulen, Universitäten bilden die Spezialisten in der Kerntechnik aus. Die fachspezifischen Studienrichtungen sind nach wie vor sehr beliebt, allerdings auch sehr anspruchsvoll. Die Mehrheit der Bevölkerung bewertet die Entwicklung der Kernenergie insgesamt positiv.
Warum glauben Sie, hat die Kernenergie in Ihrem Heimatland dieses Image? Was tun Industrie, Unternehmen oder Regierung, um über die Kernenergie zu informieren und wie unterscheidet sich dies von der Schweiz?
Die in Betrieb stehenden Kernkraftwerke decken ca. 20% des Strombedarfs in Russland ab. Die Entscheide über den Bau und Betrieb der Kernkraftwerke obliegen der russischen Regierung. Diese Tatsache ist ein wichtiger Unterschied zur Schweiz. Im Rahmen der Energiestrategie ist ein Wachstum der Produktion der Kernenergie bis 2045 auf 25% geplant. Diverse Projekte beinhalten den Ersatz der stillzulegenden Blöcke durch die modernen Anlagen der neuen Generation. Ich glaube, dass auch die Verlängerung der Betriebszeit auf 60 Jahre thematisiert wird.
«In dieser Branche arbeiten nur die bestausgebildeten Personen»
Die Kernkraft in Russland kann man nicht wegdenken. Das Land entwickelt neusten Technologien, liefert Rohstoffe und bildet die Fachkräfte für die Nuklearindustrie aus.
In der Kerntechnik in Russland zu arbeiten ist ein Privileg, das sehr geschätzt wird. Man muss nicht viel Werbung machen, denn diese Branche hat Zukunft. In dieser Branche arbeiten nur die bestausgebildeten Personen. Man kommt in Berührung mit allen naturwissenschaftlichen Disziplinen, wie z.B. Physik, Chemie, Mechanik, Elektrotechnik, Bau, Ökologie. Auch die modernen Entwicklungen, wie Digitalisierung, ziehen viele junge Menschen an. Auf diesem Gebiet gibt es auch viele Themen für Dissertationen.
Mark Whitwill, Senior Advisor Kernkraftwerk Gösgen, Grossbritannien
Nach Abschluss mein Studium in Oxford University als Physiker, habe ich eine Stelle in der Central Electricity Generation Board (CEGB) in London gefunden. Damals war CEGB die Besitzerin alle Kraftwerke in England und Wales, mit etwa 80% Kohlekraftwerken und 20% Kernkraftwerken, insgesamt rund. 50’000 MWe.
An Anfang meiner Kariere war ich nicht auf Kernenergie spezialisiert, aber ich konnte Erfahrung in verschieden Bereiche sammeln und viele gute Kontakte innerhalb dieser Branche knüpfen. CEGB wollte ihre Kernbrennstoffbeschaffung verstärken und ich hatte die Möglichkeit in die «Nuclear Materials»-Abteilung einzusteigen.
Ende der 80er-Jahre wurde die CEGB privatisiert und die Kernkraftwerke wurden jetzt Teil von British Energy, später von EDF Energy. Meine schwangere Frau und ich müssen deswegen London verlassen und nach West England umziehen. Ich war nicht so begeistert von dieser Entwicklung. Zwei Jahre später erhielt ich dann eine Job-Angebot von NAC International – eine amerikanische Beratungsfirma – für ihren Standort Zürich, auch für den Bereich Kernbrennstoffmarkt zu arbeiten. Meine Frau, unser kleiner Sohn und ich waren alle nach Zürich eingeladen. Wir waren sehr positiv beeindruckt und haben uns gedacht «Carpe Diem». Wir hatten uns überlegt, uns nach sechs Monaten definitiv zu entscheiden, ob wir zurück nach England gehen werden. Aber schon bevor vor diese Frist aufgelaufen ist, war es uns klar, dass unsere Herzen hier in die Schweiz gehören.
Die Arbeit für NAC International als Berater war eine grossartige Erfahrung und eine gründliche Weiterbildung für mich. Ich habe mich jedoch sehr gefreut, beim Kernkraftwerk Gösgen als Teil der Abteilung für Kernbrennstoffe einzusteigen und all meine Erfahrungen einbringen zu können.
Sie kommen aus England. Wie ist die der Status der Kernenergie dort, und wie wird sie Ihrer Meinung nach in der Öffentlichkeit wahrgenommen?
Grossbritannien war einer der Pioniere der friedlichen Kernenergie. Leider kam in den 70er-und 80er-Jahren eine Anti-Atomkraft-Stimmung auf, zum Teil als Folge der Unfälle von Three Mile Island und Tschernobyl, aber auch wegen des Aufstiegs der Anti-Atomwaffen-Bewegung.
Mit der Zeit ebbte die Anti-Atomkraft-Stimmung ab, vor allem als eine Reihe prominenter Umweltaktivisten, wie James Lovelock, Patrick Moore, Zion Lights argumentierten, dass die Kernenergie zur Eindämmung der globalen Erwärmung notwendig sei. Gegenwärtig unterstützen alle grossen politischen Parteien in Grossbritannien die Kernenergie oder tolerieren sie zumindest. Nur die schottischen Nationalisten und die Grünen sind gegen die Kernenergie, die Grünen haben aber nur einen Sitz im Parlament.
In der Schweiz hört man sehr selten etwas Positives über die Kernenergie, vor allem von Umweltschützern.»
Warum glauben Sie, hat dies Kernenergie in Ihrem Heimatland dieses Image? Was tun Industrie, Unternehmen oder Regierung, um über die Kernenergie zu informieren und wie unterscheidet sich dies von der Schweiz?
In der Schweiz hört man sehr selten etwas Positives über die Kernenergie, vor allem von Umweltschützern. Ich frage mich, wie es kommt, dass es in der englischsprachigen Welt Umweltschützer gibt, die die Vorteile der Kernenergie im Kampf gegen den Klimawandel anerkennen, aber in der deutschsprachigen Welt scheint niemand bereit zu sein, sich zu äussern.
Verfasser/in
S.D.