Kernenergie – Energieform voller Mythen und Vorurteile
Energiekrise und Klimawandel: Die Kernenergie ist wieder in der Diskussion der Gesellschaft angekommen. Doch es existieren viele Mythen und Vorurteile gegenüber der Kernenergie. Mit einigen davon, möchten wir aufräumen.
Aufgrund der Energiekrise, ausgelöst vor allem durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, und des Klimawandels sind Kernkraftwerke (KKW) wieder in aller Munde. Weltweit werden erneut KKW gebaut oder geplant, einige Länder verlängern die Laufzeit ihrer bestehenden Kernkraftwerke. Auch in der Schweiz wird vor diesem Hintergrund vermehrt über das im Jahr 2017 beschlossene Verbot neuer KKW diskutiert.
Mit der Diskussion um Neubau, Laufzeitverlängerung und Atomausstieg kursieren wieder vermehrt Gerüchte, Mythen und Vorurteile gegenüber der Kernenergie, die eine sachliche Auseinandersetzung zu diesem Thema erschweren.
«Kernkraftwerke sind nicht sicher genug»
Die Sicherheit der Kernkraftwerke wird von Kernenergie-Gegnern gerne in Frage gestellt. Es wird behauptet, die Kernkraftwerke seien zu alt, entsprechen nicht mehr den heutigen Sicherheitsstandards und schüren die Angst vor Radioaktivität an Beispielen der Unfälle in Tschernobyl und Fukushima.
Beginnen wir mit der Sicherheit in den Kernkraftwerken: Die Sicherheit in den Schweizer Kernkraftwerken ist das oberste Gebot. Im Schweizer Kernenergiegesetz ist festgeschrieben, dass die Sicherheit vor der Wirtschaftlichkeit steht. Es erfordert viel Engagement und permanente Investitionen, doch das zahlt sich aus, denn die Schweizer Kernkraftwerke gehören zu den sichersten in Europa, wie etwa die EU-Stresstests von 2012 (nach dem Unfall in Fukushima) gezeigt haben.
Wer überprüft denn die Sicherheit? Das macht das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI). Die Kernanlagen dürfen erst wieder ans Netz, wenn das ENSI die jährliche Betriebsfreigabe im Anschluss an die Jahreshauptrevision gegeben hat.
Und ja, Menschen können Fehler machen oder die Technik kann versagen, doch auch da ist die Sicherheit der Kernkraftwerke durch bauliche, technische und organisatorische Sicherheitsmassnahmen gewährleistet, die laufend an die Entwicklung der Technik angepasst werden.
Die Website «Our World in Data» hat eine Aufstellung der Todesraten durch Unfälle und Luftverschmutzung der einzelnen Energieformen gemacht. Dort werden die Todesfälle pro Terawattstunde Stromproduktion gemessen. Kohle und Öl sind damit die unsichersten Energiequellen, während Solar, Kernenergie (es sind die Unfälle in Tschernobyl und Fukushima mit eingerechnet) und Wind die sichersten Energieformen sind.
«Kernkraftwerke sind nicht CO2-neutral»
Es stimmt, Kernkraftwerke sind nicht CO2-neutral, jedoch ist das keine der vorhandenen Energiequellen. Kohle, Öl und Gas stossen das meiste CO2 aus, während Kernenergie den geringsten Ausstoss hat, gefolgt von Wind und Solar.
Auch laut dem Weltklimarat (IPCC) und der UNECE ist Kernkraft zusammen mit Windkraft die klimafreundlichste Energiequelle.
Ein Kernkraftwerk stösst übrigens im Betrieb keine Treibhausgase aus. Die Emissionen kommen etwa zur Hälfte durch Bau, Abbau und Entsorgung zustande. Die zweite Hälfte der Emissionen entsteht durch die Gewinnung und Verarbeitung von Uran.
Um also einen sauberen Strommix in der Welt zu schaffen, müssen wir raus aus Kohle, Öl und Gas, die derzeit rund 60% des Stroms weltweit (und 80% der Energie) liefern, und hin zu einem Mix aus Kernenergie und Erneuerbaren!
«Der Bau von Kernkraftwerken dauert zu lange»
Das lässt sich nicht so pauschal sagen. Es gibt Negativ-Beispiele wie das finnische Kernkraftwerk Olkiluoto-3, dessen Bau bereits 2005 begonnen, sich dann aber massiv verzögert hatte, sodass es erst im Juli dieses Jahres den kommerziellen Betrieb aufnehmen kann. Auch die anderen aktuellen Beispiele in Europa in Flamanville (Frankreich) und Hinkley Point (Grossbritannien) sind kein Ruhmesblatt für die Branche.
Als absolut positives Beispiel, das das Vorurteil einer zu langen Bauzeit widerlegt, gilt in China die neue Kernkraftwerkseinheit Fangchenggang-3, die im Dezember letzten Jahres nur sieben Jahre nach dem Baubeginn die Betriebsgenehmigung erhielt. Etwa ähnlich lange dauerten die Bauarbeiten für das erste Kernkraftwerk in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Barakah.
Die Grafik, die aus den Informationen der IAEO-PRIS-Datenbank von 2016 zusammengestellt wurde zeigt, dass von damals 441 Kernkraftwerkseinheiten 374 in zehn Jahren und weniger gebaut wurden. Im Durchschnitt dauert der Bau eines KKW, wenn es nach Plan läuft, 7.5 Jahre.
Die PRIS-Datenbank enthält Informationen zu den derzeit 442 in Betrieb befindlichen Reaktoren, inklusive des Datums des Baubeginns und des Netzanschlusses. So liess sich die durchschnittliche Bauzeit von 7.5 Jahren berechnen.
«Es gibt keine Lösung für den Atommüll»
Ein häufig genanntes Argument gegen Kernenergie ist das «Problem» der Entsorgung der radioaktiven Abfälle. Richtig, es hat gesundheitliche Folgen, wenn man sich ungeschützt für längere Zeit in der Nähe von hochaktiven radioaktiven Abfällen aufhält. Jedoch kommt niemand direkt mit den radioaktiven Abfällen in Berührung. Die Brennelemente werden, nachdem sie ausgedient haben, erst in einem mit Wasser gefüllten Abklingbecken innerhalb der Kernkraftwerke gelagert und gekühlt, so dass Strahlungsaktivität und Temperatur bis zum Abtransport in ein Zwischenlager erheblich vermindert werden. Für den Transport werden die Brennelemente in einen Transport- und Lagerbehälter verpackt, beispielsweise einen Castor verpackt. Der gesamte radioaktive Abfall aus 60 Jahren Kernenergie in der Schweiz beträgt etwa 80’000 Kubikmeter und würde nicht mal die alte Bahnhofshalle am Zürcher Hauptbahnhof ganz füllen. Oder: Der radioaktive Abfall, der pro Person im Laufe seines Lebens anfällt, würde ungefähr in eine Getränkedose passen.
Die radioaktiven Abfälle können natürlich nicht ewig im Zwischenlager bleiben. In der Schweiz gibt es zudem das Kernenergiegesetz, das ein geologisches Tiefenlager vorsieht, um die radioaktiven Abfälle für lange Zeit sicher vom Lebensraum der Menschen fernzuhalten, bis sie zur Unschädlichkeit zerfallen sind. Deshalb hat die Nagra den Auftrag bekommen, ein Tiefenlager zu planen und zu realisieren, und hat als geeigneten Standort Nördlich Lägern vorgeschlagen.
Doch wie funktioniert das? Einfach ein Loch in die Erde bohren und die Castorbehälter dort vergraben? Nein, natürlich nicht. Das Tiefenlager wird über ein durchdachtes System aus mehrfachen Sicherheitsbarrieren bestehen, die dafür sorgen, dass die Abfälle in mehreren hundert Metern Tiefe in einer dichten und stabilen Schicht eingeschlossen werden. In der Schweiz ist die wichtigste Barriere das Tongestein Opalinuston. Es ist äusserst geringdurchlässig, hält Wasser fern und radioaktive Stoffe zurück. Um den Opalinuston herum befinden sich weitere tonhaltige und geringdurchlässige Gesteinsschichten.
Auch andere Länder sind auf der Suche nach einem geeigneten Standort für ein geologisches Tiefenlager. Finnland möchte 2025 das weltweit erste geologische Tiefenlager «Onkalo» für ausgediente Brennelemente in Betrieb nehmen. Im Nachbarstaat Schweden hat die Regierung den Bau des ersten Tiefenlagers für abgebrannte Kernbrennstoffe in Forsmark und einer Verkapselungsanlage in Oskarshamn genehmigt.
Es gibt also doch eine Lösung zur sicheren Entsorgung sowohl schwach- und mittelaktiver als auch hochaktiver Abfälle, nämlich geologische Tiefenlager – sie werden auch Endlager genannt. Viele Länder, wie auch die Schweiz, arbeiten an der Umsetzung dieser Lösung. Für schwach- und mittelaktive Abfälle stehen schon seit Jahrzehnten Endlager erfolgreich in Betrieb.
«Die Allgemeinheit zahlt den Rückbau der Kernkraftwerke»
Die Kosten für die Stilllegung und Entsorgung eines Kernkraftwerks trägt nicht die Allgemeinheit, sondern die Betreiber der Schweizer Kernkraftwerke bzw. indirekt die Stromkunden. Pro Kilowattstunde Atomstrom wird dem Konsumenten rund ein Rappen für Stilllegung und Entsorgung verrechnet. Sie sind nach dem Kernenergiegesetz verpflichtet, ihre Anlagen nach der endgültigen Ausserbetriebnahme zurückzubauen, alle radioaktiven Abfälle sicher in geologischen Tiefenlagern zu entsorgen und sämtliche damit verbundene Kosten zu tragen.
Bereits während des Betriebs der KKW zahlen die Betreiber in Stilllegungs- und Entsorgungsfonds ein. Beim Schätzen der Kosten für den Rückbau orientiert man sich an den Erfahrungswerten in Deutschland. Unter der Aufsicht des Bundes werden die geschätzten Kosten alle fünf Jahre im Rahmen von Kostenstudien nach dem aktuellen Stand des Wissens in der Schweiz neu ermittelt.
«Kernenergie ist zu teuer»
Ein weiteres sehr beliebtes Argument gegen Kernenergie sind die Kosten, die angeblich viel zu hoch seien. Man muss jedoch bei der Wirtschaftlichkeit von neuen Kernkraftwerken die Stromgestehungskosten beachten. Darin sind auch die Kosten für die Stilllegung der Kernkraftwerke und die Entsorgung der radioaktiven Abfälle enthalten.
Es gibt verschiedene Quellen und Berechnungen für die Gestehungskosten. Der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) berechnet zwischen 4-7 Rp/kWh für die Stromproduktion der Schweizer Kernkraftwerke. Somit seien sie eine der günstigsten Technologien. Das Paul-Scherrer-Institut (PSI) hat im Auftrag des Bundesamtes für Energie (BFE) in der Studie «Potenziale, Kosten und Umweltauswirkungen von Stromproduktionsanlagen» die aktuellen und erwarteten Stromgestehungskosten verschiedener Energiequellen zusammengestellt. Darin beinhaltet sind auch Neubauten.
Auch international werden ähnliche Stromgestehungskosten errechnet. Die Internationale Energieagentur (IEA) kommt sogar zu leicht tieferen Werten als der VSE und das PSI. Sie macht allerdings keine expliziten Angaben für Neubauten in der Schweiz.
Im Gegensatz dazu steht die jährlich aktualisierte Studie des amerikanischen Finanzunternehmens Lazard. Dort sind die Stromgestehungskosten verglichen mit anderen Studien mit 13 und 20 Rp/kWh sehr hoch beziffert. Hier wird jedoch nur die USA sowie die Laufzeit von Kernkraftwerken von nur 40 statt 60 Jahren berücksichtigt. Dadurch werden die Kosten auf 150% erhöht.
«Kernkraftwerke führen zu Atombomben»
Einer der bekanntesten Mythen ist, dass Kernkraftwerke den Bau von Atombomben fördern. Die Angst vor Atombomben besteht seit den Abwürfen auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 im Zuge des Zweiten Weltkrieges. Doch dass kommerzielle Kernkraftwerke eingesetzt wurden, um waffenfähiges Plutonium (Pu-239) zu erbrüten, ist in der Geschichte der Menschheit noch nie vorgekommen. Wirft man einen Blick auf die Länder, die Atombomben besitzen, so z.B. Israel und Nordkorea, sieht man, dass in den Ländern keine kommerziellen Kernkraftwerke stehen.
In den bei uns typischen Leichtwasserreaktoren ist die Herstellung von Pu-239 gar nicht möglich. Es ist zwar richtig, dass auch in diesen Reaktoren PU-239 entsteht, es ist aber zu stark mit Pu-240 verunreinigt. Waffenfähiges Plutonium muss jedoch isotopenreines Pu-239 sein (ab einem Gehalt von 92%), um eine kritische Masse zu erreichen. Dieses Gehalt zu erreichen, ist in den bei uns üblichen Kernkraftwerken nicht möglich.
Es gibt etliche weitere Vorurteile und Mythen zu Kernenergie und Kernkraftwerke, über die aufgeklärt werden muss. Fakt ist, dass man sich auf verschiedenen offiziellen Seiten oder auch vor Ort in den Besucherzentren der Kernkraftwerke informieren und sich ein umfassendes Bild machen sollte, bevor man jedem Mythos Glauben schenkt.
Verfasser/in
Aileen von den Driesch, Projektleiterin Kommunikation Nuklearforum Schweiz
Quelle
IAEA - PRIS
IAEA - Atoms for Peace and Development
IPCC - Energy systems
kernenergie.ch - Sicherheit in Kernkraftwerken
kernenergie.ch - Stilllegung und Entsorgung eines KKW
Nagra - Das geologische Tiefenlager
Nagra - Technischer Bericht 21-01 - Entsorgungsprogramm 2021 der Entsorgungspflichtigen
Tech for Future - Fact Check