Frankreich: Spannungsrisskorrosion bei gewissen Kernreaktoren

Die Kernkraftwerksbetreiberin Électricité de France (EDF) hat seit Oktober 2021 vor allem bei den leistungsstärkeren Reaktoren ihres Kernkraftwerksparks Spannungsrisskorrosionen entdeckt. Letztmals hat sie am 6. März 2023 der französischen Autorité de sûreté nucléaire (ASN) neue Befunde von Spannungsrisskorrosion gemeldet. Diese betreffen vier Kernkraftwerkseinheiten, vor allem aber den Block 1 von Penly. Die Ursachen und betroffenen Leitungen sind nicht immer dieselben, wie wir in unserem Hintergrundartikel erklären.

13. März 2023
Kernkraftwerk Civaux in Frankreich
Im Bild das französische Kernkraftwerk Civaux. Im Block 1 wurde im Oktober 2021 der erste Fall von Spannungsrisskorrosion entdeckt.
Quelle: Jährlicher Informationsbericht 2019 zu Civaux / EDF

Gemäss ASN wurde die Spannungsrisskorrosion erstmals beim Block 1 des französischen Kernkraftwerks Civaux im Rahmen der zweiten Zehn-Jahres-Inspektion entdeckt, die in Frankreich alle zehn Jahre durchgeführt werden: «Am 21. Oktober 2021 informierte EDF die ASN im Anschluss an die Durchführung von Ultraschallprüfungen die im Rahmen der zweiten Zehn-Jahres-Inspektion des Reaktors 1 des Kernkraftwerks Civaux geplant waren – über das Auffinden von Hinweisen [zu Spannungsrisskorrosion] an den Schweissnähten der Bögen der Sicherheits-Einspeisungsleitungen des Hauptkühlkreislaufs (Primärkreislauf) des Reaktors.»

Von Spannungsrisskorrosion sind nicht alle französischen Kernreaktoren betroffen, sondern laut Aussage von ASN sind vorwiegend die leistungsstärkeren Reaktoren dafür anfällig. Dort ist es aber laut Informationen von EDF von Mitte 2022 ein generisches Problem, das bei mehreren baugleichen Reaktoren des Typs N4 der 1450-MW-Klasse und des Typs P’4 der 1300-MW-Klasse auftritt. Civaux-1, wo die Spannungsrisskorrosion Ende 2021 erstmals entdeckt wurde, verfügt über einen Reaktor der 1450-MW-Klasse. Anfällig bei Reaktoren des Typs N4 und P’4 ist hauptsächlich der kalte Strang des Sicherheits-Einspeisesystems (siehe Abbildung unten) und bei Reaktoren des Typs N4 zusätzlich die Saugleitung des Nachkühlsystems/Nachwärmeabfuhrsystems. In der Nähe von Schweissnähten kann es bei solchen Rohren feine Risse geben, die bis anhin aber nur eine geringe Tiefe hatten.

Wenn eine ausgeprägte Spannungsrisskorrosion auftritt, besteht die Gefahr, dass es zu einem Leck oder einem Bruch der betroffenen Leitung kommen könnte. Dazu ist es aber nie gekommen – selbst ein Bruch einer solchen Leitung müsste beherrscht werden können.

So entsteht und äussert sich die Spannungsrisskorrosion
Spannungsrisskorrosion kann dann auftreten, wenn drei ungünstige Umstände zusammenkommen: hohe mechanische Belastungen, aggressive Umgebungsbedingungen und ein Material, das empfindlich auf diese Bedingungen reagiert. «Die ersten Laboruntersuchungen zeigen eine langsame Ausbreitung des Phänomens und eine begrenzte Tiefe der Risse, die zwischen 0,75 mm und maximal 5,6 mm variieren (im Vergleich zur Dicke der Rohrleitungen von fast 30 mm). Alle begutachteten Proben zeigten ein Riss-Ende auf der Höhe des ersten Schweissdurchgangs (des sogenannten «Wurzeldurchgangs»), d. h. höchstens einige Millimeter», schrieb EDF im Februar 2022.

«Um den Ursprung dieser Risse zu ermitteln, wurden die Rohre aufgeschnitten und die betroffenen Schweissnähte zur Begutachtung an das Labor geschickt. Durch metallografische und mikroskopische Untersuchungen konnte EDF die Art und Tiefe der festgestellten Risse bestimmen. Bei den Fehlern scheint es sich um Spannungsrisskorrosion zu handeln», schrieb das Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire (IRSN) in seinem Faktenblatt zur Spannungsrisskorrosion. EDF arbeitet mit Hochdruck daran, betroffene Leitungen zu identifizieren und diese zu ersetzen, was in vielen Fällen bereits erfolgt ist. Bis 2025 will EDF alle seine Reaktoren mithilfe eines zerstörungsfreien Prüfverfahrens mittels Ultraschalls inspiziert und allfällige Schäden aufgespürt habe, was von der ASN im Sommer 2022 gutgeheissen wurde.

Geometrie und thermomechanische Belastungen als ursprüngliche Ursache der Spannungsrisskorrosion
Die Hauptursache für das Auftreten der Spannungsrisskorrosion konnte EDF mit den Laboruntersuchungen auf die Geometrie der Leitungen und ihre thermomechanischen Belastungen zurückführen. Die Spannungsrisskorrosion trat dabei im Material der Rohrbögen in unmittelbarer Nähe der Schweissnähte, parallel zu diesen auf. Bernard Doroszczuk, Vorsitzender von ASN, erklärte im März 2023 vor dem Senat: «Es ist die Geometrie der Leitungen, die zur Entwicklung eines Phänomens der Spannungsrisskorrosion geführt hat, und diese Geometrie der Leitungen findet sich bei den jüngsten Reaktoren wieder. Es handelt sich nicht um ein Alterungsphänomen.»

Neues Phänomen der Spannungsrisskorrosion bei Penly-1 im Frühjahr 2023
Gemäss Angaben der Nuklearaufsichtsbehörde hat EDF am 6. März 2023 eine aktualisierte Meldung über das Auftreten einer sicherheitsrelevanten Spannungsrisskorrosion in mehreren französischen Druckwasserreaktoren an ASN gemacht. «Diese Aktualisierung betrifft den Reaktor 3 des Kernkraftwerks Cattenom und die Reaktoren der Kernkraftwerke Civaux, Chooz B und Penly», gab ASN bekannt. Ein besonders tiefer Riss sei bei Kontrollen einer reparierten Schweissnaht des Blocks 1 im Kernkraftwerk Penly entdeckt worden, das im Norden Frankreichs am Ärmelkanal liegt. Penly-1 ist gegenwärtig für die dritte Zehn-Jahres-Inspektion und für Reparaturen abgeschaltet und hätte ursprünglich im Mai wieder hochgefahren werden sollen.

«Der Riss befindet sich in der Nähe einer Schweissnaht bei einer Leitung im heissen Strang des Sicherheits-Einspeisesystems des Reaktorblocks 1 von Penly. Der Riss erstreckt sich über 155 mm, d. h. etwa ein Viertel des Umfangs der Leitung, und seine maximale Tiefe beträgt 23 mm bei einer Wanddicke der Leitung von 27 mm», äusserte sich ASN. Das Vorhandensein eines Risses dieser Dimension führe dazu, dass die Festigkeit der Rohrleitung nicht mehr länger nachgewiesen werden könne. Bei den oben beschriebenen Korrosionsschäden rund um Civaux-1 war die Geometrie der Rohrleitungen und deren thermochemische Belastung die Hauptursache für die moderaten Risse. Beim ausgeprägten Riss bei Penly-1 wird eine andere Ursache vermutet.

Korrosion bei Penly-1 ist vermutlich ein Einzelfall und kein universelles Problem
Bei den neuesten Entdeckungen von EDF im Block-1 des Kernkraftwerks Penly ist nun eine Leitung des heissen Strangs des Sicherheits-Einspeisesystems von einem Riss betroffen und nicht eine Leitung des kalten Strangs. Aufgrund ihrer Geometrie seien die Leitungen des heissen Strangs des Sicherheits-Einspeisesystems bisher von EDF als nicht anfällig für Spannungsrisskorrosion angesehen worden, hielt ASN fest und ergänzte: «Allerdings wurde diese Schweissnaht beim Bau des Reaktors [Penly-1] doppelt repariert, was dazu führt, dass sich ihre mechanischen Eigenschaften und die inneren Spannungen des Metalls in diesem Bereich verändern.»

Die Hintergründe rund um das Schweissen der betroffenen Naht bei Penly-1 erklärte Bernard Doroszczuk von ASN an einer Senatssitzung vom 8. März 2023 – dazu gibt es ein YouTube-Video. Laut Doroszczuk sind die Rohre Stück für Stück zusammengesetzt und verschweisst worden. Vor dem Anfertigen der letzten Schweissnaht habe man gesehen, dass die Enden nicht ganz aufeinanderpassten. Unter Kraftanwendung habe man die Leitungen daher zurechtgebogen, damit sie aufeinanderpassten und man sie schweissen konnte. Dieser Ansatz sei nicht akzeptabel («une approche qui n'est pas acceptable»). An der Schweissnaht habe es Mängel gegeben, die zu einer zweiten Reparatur führten.

Man habe es hier mit einem speziellen Einzelfall zu tun. Ein massenhaftes Vorliegen des Problems treffe in diesem Fall nicht zu und auch nicht, dass die Geometrie der Leitungen der Reaktoren ein Problem darstellen würde, äusserte sich Doroszczuk, der kein massenhaftes Problem bei Reaktoren mit reparierten Schweissnähten erwartet. Das schliesse aber nicht aus, dass der Fehler auch anderswo auftreten könne, so Doroszczuk, der auch die reparierten Schweissnähte weiterer Reaktoren rasch prüfen lassen will. EDF müsse nun der ASN eine überarbeitete Strategie vorlegen, welche die Entdeckung des Risses in Penly-1 berücksichtige.

Riss in Penly-1 wurde im Rahmen eines bereits lancierten Kontrollprogramms für reparierte Schweissnähte entdeckt
ASN erkannte bereits in den letzten Monaten, dass reparierte Schweissnähte überprüft werden müssen: «EDF führt ein Kontrollprogramm an den reparierten Schweissnähten der Sicherheits-Einspeise- und Nachkühlsysteme durch. Mehr als 150 Schweissnähte wurden im Labor begutachtet und die Kontrollen werden fortgesetzt, wobei ab 2023 ein Kontrollprogramm für alle Reaktoren vorgesehen ist», sagte ASN. Gemäss Medienberichten habe EDF weit mehr als hundert reparierte Schweissnähte überprüft und keine Fehler entdecken können, bevor nun der Schaden bei Penly-1 entdeckt worden sei. Insgesamt müssen 320 solcher reparierten Schweissnähte überprüft werden.

Da eine solche Prüfung nicht an den heissen Leitungen während des Reaktorbetriebs gemacht werden kann, muss dieser zuerst abgeschaltet werden. Laut Aussagen der ASN gegenüber den Medien werde es aber aufgrund der neuen Entdeckungen in Penly-1 nicht zu massiven Abschaltungen kommen. Die französischen Reaktoren werden jährlich zur Jahresrevision und zum Austausch von Brennelementen abgeschaltet. Die Kernkraftwerke würden dann wegen der Kontrollen der reparierten Schweissnähte lediglich etwas länger abgeschaltet bleiben, so ASN.

Selbst bei einem Leitungsbruch könnte der Reaktor gekühlt werden
Gemäss ASN berücksichtigt der Sicherheitsnachweis für den Reaktor den Bruch einer dieser Leitungen des Sicherheits-Einspeisesystems. Das heisst: Die Anlage ist so ausgelegt, dass selbst bei einem Bruch einer solchen Leitung der Reaktorkern mit den Brennelementen noch ausreichend gekühlt werden kann.

In Bezug auf den nun im März 2023 entdeckten Riss bei Penly-1 und den allgemeinen Spannungsrisskorrosionen bei Cattenom-3 sowie den weiteren Reaktoren der Kernkraftwerke Civaux, Chooz B und Penly schrieb ASN: «Dieses Ereignis hatte keine Auswirkungen auf das Personal oder die Umwelt. Es beeinträchtigt jedoch die Sicherheitsfunktion, die mit der Kühlung des Reaktors verbunden ist. Aufgrund der potenziellen Folgen und der erhöhten Wahrscheinlichkeit eines Bruchs stuft die ASN das Ereignis für den Reaktor 1 des Kernkraftwerks Penly auf Stufe 2 der INES-Skala und für die anderen betroffenen Reaktoren auf Stufe 1 ein.»

Sicherheits-Einspeisesystem
Das Sicherheits-Einspeisesystem für den heissen und kalten Strang einer Kühlschleife des Primärkreislaufs. Der Primärkreislauf der betroffenen französischen Leistungsreaktoren besitzt jeweils vier solche Kühlschleifen mit den entsprechenden Sicherheitssystemen.
Quelle: angepasst, basierend auf EDF
Kalter Strang des Sicherheits-Einspeisesystems
Allgemeine Spannungsrisskorrosion: Ansicht der betroffenen Stellen neben den Schweissnähten im kalten Strang des Sicherheits-Einspeisesystems.
Quelle: angepasst, basierend auf IRSN

Aufgabe des Sicherheits-Einspeisesystems und des Nachkühlsystems
Das Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire (IRSN) beschreibt in einem Faktenblatt die Aufgabe des Sicherheits-Einspeisesystems: «Das Notkühlsystem für den Reaktorkern (Kernnotkühlsystem, ECCS) ist ein Sicherheitssystem, das boriertes Wasser in den Hauptkühlmittelkreislauf des Reaktors (auch Primärkreislauf genannt) einspeist, um den Reaktorkern im Falle eines Bruchs im Hauptkühlkreislauf zu kühlen. Ziel ist es also, einen ausreichenden Wasserstand im Kern aufrechtzuerhalten, um die Brennelemente zu kühlen. Das Sicherheits-Einspeisesystem für den Kern besteht aus zwei unabhängigen Leitungen, die mit dem heissen Strang (nach dem Auslass des Reaktordruckbehälters) und dem kalten Strang (vor dem Einlass des Reaktordruckbehälters) jedes der vier Kühlschleifen des Hauptkühlmittelkreislaufs verbunden sind.»

Nach einer planmässigen Abschaltung der Reaktoranlage hingegen, übernimmt das Nachkühlsystem/ Nachwärmeabfuhrsystem die Kühlung des Reaktorkerns und führt die durch den Brennstoff im Reaktordruckbehälter erzeugte Restwärme (Nachzerfallswärme) ab. Das Nachkühlsystem ist so leistungsfähig, dass die Reaktoranlage innerhalb einiger Stunden abgekühlt werden kann. Die Nachkühlpumpen saugen dabei aus den vom Reaktor wegführenden Hauptkühlmittelleitungen an und speisen das Kühlmittel über die Nachkühler in die zum Reaktor hinführenden Leitungen des Reaktorkühlsystems zurück. Eine Grafik der französischen Agence France-Presse zeigt das Nachkühlsystem im Reaktor (siehe hier: circuit de refroidissement du réacteur à l'arrêt, RRA).

Mehr technische Informationen auf Deutsch und Französisch

  • Das Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire (IRSN) beschreibt auf seiner Website die verschiedenen Kreisläufe und Sicherheitssysteme der französischen Reaktoren.
  • Zur Spannungsrisskorrosion in Frankreich informiert auch die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) regelmässig auf ihrer Website.
  • Die französische Aufsichtsbehörde Autorité de sûreté nucléaire (ASN) informiert zur Spannungsrisskorrosion und zur Inspektion von Kernkraftwerken in Frankreich.
  • Hintergrundinformationen des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (ENSI) zur Inspektion von Kernkraftwerken in der Schweiz.
  • Die Schweizer Kernkraftwerke verfügen über zahlreiche Sicherheitssysteme, die zur Nachwärmeabfuhr und Sicherheitseinspeisung dienen (Übersichtsseite).

Verfasser/in

Dr. Benedikt Galliker, Nuklearforum Schweiz

Quelle

ASN, Medienmitteilung, 8. März 2023, und Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), Website zu Spannungsrisskorrosion, 9. März 2023; Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire (IRSN), Faktenblatt zur Spannungsrisskorrosion sowie Website; EDF, Information, 21. September 2022.
Am 16.3.2023 wurde der Text korrigiert.

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