Chancen und Herausforderungen innovativer Reaktorsysteme

Die Reaktoren der Generation IV versprechen eine neue Ära in der Kerntechnologie, die auf höhere Sicherheit, Ressourceneffizienz und weniger Abfall setzt. Mit ihrer innovativen Konstruktion und passiven Sicherheitssystemen könnten sie die Herausforderungen der Kernenergie der Zukunft bewältigen. Diese Reaktoren bieten zudem flexible Nutzungsmöglichkeiten, vom Strom bis zur industriellen Prozesswärme, und sollen ab den 2030er-Jahren marktreif werden. Natalia Amosova von Apollo+ ordnet ein.

20. Jan. 2025
Fotorealistische Darstellung des Natrium-SMR von TerraPower.
Fotorealistische Darstellung des Natrium-SMR von TerraPower.
Quelle: TerraPower

International werden seit Jahrzehnten innovative Reaktorkonzepte diskutiert, erforscht und entwickelt. Einige davon werden als Reaktoren der Generation IV bezeichnet. Was zeichnet sie aus?

Die Reaktoren der Generation IV repräsentieren einen bedeutenden Entwicklungssprung in der Kernreaktortechnologie. Sie zeichnen sich durch eine inhärent sichere Auslegung mit passiven Sicherheitssystemen aus, bieten eine deutlich höhere Brennstoffnutzung und ermöglichen einen geschlossenen Brennstoffkreislauf. Diese innovativen Reaktorkonzepte sind darauf ausgelegt, die Menge an radioaktiven Abfällen erheblich zu reduzieren und verfügen über verbesserte Eigenschaften zur Verhinderung der Proliferation des spaltbaren Materials. Zudem ermöglichen höhere Betriebstemperaturen einen besseren Wirkungsgrad und die Nutzung für industrielle Prozesswärme.

Im Rahmen des «Generation IV International Forum» (GIF) werden sechs verschiedene Reaktorkonzepte intensiv erforscht und entwickelt, darunter der natriumgekühlte Schnelle Reaktor, der Ultrahochtemperatur-Reaktor und der Salzschmelze-Reaktor (siehe Kasten). Diese Systeme nutzen unterschiedliche Kühlmittel wie Natrium, Blei oder Helium und sind auf maximale wirtschaftliche Effizienz ausgelegt. Durch standardisierte Bauweise und skalierbare Auslegungen von Klein- bis Grossanlagen sollen die Bauzeiten verkürzt und die Betriebs- und Wartungskosten deutlich gesenkt werden. Die kommerzielle Einführung dieser zukunftsweisenden Reaktorsysteme wird für den Zeitraum 2030–2040 angestrebt.

Zudem gibt es noch weitere Reaktorsysteme, wie jenes von Transmutex, die ebenfalls als innovativ gelten, aber nicht zu den Generation-IV-Reaktoren gehören. Was versteht man unter innovativ im Vergleich zur vierten Generation?
Der Begriff «innovativ» bei Reaktorsystemen wie dem von Transmutex bezieht sich auf technologische Ansätze, die sich von den klassischen Generation-IV-Konzepten unterscheiden. Diese Systeme verfolgen oft spezifische Optimierungsziele, wie beispielsweise die beschleunigergetriebene Transmutation von radioaktiven Abfällen oder die Entwicklung besonders kompakter oder modularer Bauweisen. Im Gegensatz zu den Generation-IV-Reaktoren, die als vollständige Kraftwerkssysteme zur Energieversorgung konzipiert sind, können innovative Reaktorsysteme auch Speziallösungen für bestimmte Anwendungen darstellen.

Während Generation-IV-Reaktoren einem standardisierten internationalen Entwicklungsrahmen folgen und bestimmte festgelegte Kriterien erfüllen müssen, können innovative Reaktorkonzepte flexibler ausgelegt sein und neue technologische Wege beschreiten. Diese Systeme können zwar ähnliche Ziele wie Generation-IV-Reaktoren verfolgen – etwa noch weiter verbesserte Sicherheit oder effizientere Ressourcennutzung – setzen dabei aber auf alternative technische Lösungswege.

Das Generation IV International Forum (GIF)

Das GIF ist eine internationale Kooperation, die 2001 gegründet wurde, um die Entwicklung der vierten Generation von Kernreaktoren voranzutreiben. Das Forum umfasst derzeit 13 Mitgliedsländer (einschliesslich der Schweiz) sowie die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) als Vertreterin der 27 Mitgliedstaaten der EU. Diese Partnerstaaten arbeiten zusammen, um innovative Reaktorkonzepte zu erforschen, die eine sichere, wirtschaftliche und umweltfreundliche Nutzung der Kernenergie ermöglichen sollen.

Das GIF wählte in einem umfangreichen Selektionsverfahren die sechs folgenden Reaktorsysteme zur weiteren Vertiefung aus:
• gasgekühlte Schnelle Reaktoren (Gas-cooled Fast Reactors, GFR)
• natriumgekühlte Schnelle Reaktoren (Sodium-cooled Fast Reactors, SFR)
• bleigekühlte Schnelle Reaktoren (Lead-cooled Fast Reactors, LFR)
• Salzschmelze-Reaktoren (Molten Salt Reactors, MSR)
• überkritische wassergekühlte Reaktoren (Super-Critical Water-cooled Reactors, SCWR)
• Ultrahochtemperatur-Reaktoren (Very-High Temperature Reactor, VHTR)

Was sind die potenziellen Vorteile all dieser neuartigen Reaktorsysteme gegenüber der heutigen Generation von Kernkraftwerken?

Die neuartigen Reaktorsysteme der Generation IV bieten gegenüber den aktuellen Kernkraftwerken mehrere entscheidende Vorteile im Hinblick auf Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit. Die passive Sicherheit wird durch inhärente Konstruktionsmerkmale deutlich erhöht, sodass selbst bei vollständigem Stromausfall keine Kernschmelze möglich ist. Die Effizienz der Brennstoffnutzung wird um das 50- bis 100-Fache gesteigert, was den Uranabbau drastisch reduziert und die Versorgungssicherheit erhöht. Zudem ermöglichen diese Systeme eine signifikante Reduzierung der hochaktiven Abfälle, sowohl in der Menge als auch in der erforderlichen Lagerungsdauer.

Die höheren Betriebstemperaturen ermöglichen nicht nur einen besseren Wirkungsgrad bei der Stromerzeugung, sondern eröffnen auch neue Anwendungsmöglichkeiten wie die Erzeugung von Prozesswärme für industrielle Zwecke oder die Produktion von Wasserstoff. Durch die Möglichkeit, bestehende nukleare Abfälle als Brennstoff zu nutzen und diese in kurzlebigere Isotope umzuwandeln, tragen diese Reaktoren auch zur Lösung des Entsorgungsproblems bei.

Und ihre potenziellen Nachteile?

Ein wesentlicher Aspekt ist die technische Komplexität dieser Systeme, die sich beispielsweise bei Schnellen Reaktoren in den besonderen Anforderungen an Materialien und Komponenten zeigt, die hohen Temperaturen und intensiver Neutronenstrahlung standhalten müssen. Auch die Handhabung neuer Kühlmittel wie Flüssigsalze oder Blei erfordert innovative Lösungen für Korrosionsschutz und Wartung. Die Entwicklung und Qualifizierung dieser Technologien sowie der Aufbau der erforderlichen Lieferketten sind mit erheblichen Kosten und Zeitaufwand verbunden.

Ein weiterer potenzieller Nachteil liegt in der noch fehlenden Betriebserfahrung für viele dieser Konzepte im kommerziellen Massstab. Dies führt zu Unsicherheiten bei der Kostenprognose und erfordert umfangreiche Demonstrationsprojekte vor einer breiten Markteinführung. Auch die Genehmigungsverfahren für diese neuartigen Systeme stellen eine besondere Herausforderung dar, da die Aufsichtsbehörden neue Bewertungskriterien und Nachweisverfahren entwickeln müssen.

Diese Reaktorsysteme stehen in der Kritik zu spät für die zukünftige Energieversorgung zu kommen. Sie seien noch weit von einer breiten Einführung entfernt, zu teuer und mit sicherheitstechnischen Risiken verbunden. Können Sie diese Kritik einordnen?

Die Behauptung, dass moderne Reaktorsysteme «zu spät» für die zukünftige Energieversorgung kommen, ignoriert das zentrale Ziel nachhaltiger und stabiler Energiequellen: die langfristige Versorgungssicherheit. Des Weiteren muss man sehen, dass der Energiebedarf durch die fortschreitende Elektrifizierung, das Wachstum von KI-Anwendungen und Rechenzentren sowie die generelle Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft kontinuierlich steigt. Verlässliche CO2-arme Grundlastkapazitäten werden daher auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen, auch für die industrielle Prozesswärme. Die Generation-IV-Entwickler verfolgen dabei einen systematischen Ansatz mit gestaffelten Demonstrationsprojekten verschiedener Grössenordnungen, um ihre Technologien schrittweise zu validieren und zu optimieren. Diese methodische Vorgehensweise ist zwar zeitintensiv, aber essenziell für die sichere und zuverlässige Einführung dieser innovativen Technologien.

Was die Kostenkritik betrifft, so erscheint diese verfrüht, da sich die meisten Systeme noch in der Entwicklungs- und Demonstrationsphase befinden und belastbare Daten aus dem kommerziellen Betrieb noch nicht vorliegen. Die modulare Bauweise und die Möglichkeit zur Serienfertigung bergen erhebliches Potenzial für Kostensenkungen. Bezüglich der sicherheitstechnischen Bedenken setzen die Entwickler auf einen mehrstufigen Validierungsprozess: von kleinskaligen Versuchsanlagen über Demonstrationsreaktoren bis hin zu kommerziellen Prototypen. Dieser Ansatz ermöglicht es, Sicherheitssysteme und Betriebsverfahren gründlich zu erproben und zu optimieren, bevor grössere kommerzielle Einheiten gebaut werden. Die inhärenten und passiven Sicherheitseigenschaften dieser Reaktoren werden dabei in jeder Entwicklungsphase intensiv getestet und validiert. Die schrittweise Einführung dieser Technologien erlaubt es zudem, Betriebserfahrung zu sammeln und die Systeme kontinuierlich weiterzuentwickeln.

Welche Reaktortypen beurteilen Sie als vielversprechend, um markt- und betriebsreif zu werden und in welchem Zeithorizont?

Die Triso-Brennstoff basierten Kugelhaufenreaktoren zeigen sich als besonders vielversprechende Technologie für eine zeitnahe Markteinführung. Diese Reaktortypen, wie beispielsweise der gasgekühlte Xe-100 von X-energy oder der salzgekühlte KP-FHR von Kairos Power, vereinen fortschrittliche Sicherheitsmerkmale mit praktischen Vorteilen für eine kommerzielle Nutzung. Das grosse Interesse führender Technologieunternehmen – wie die jüngste Investition von Amazon in X-energy oder die Entwicklungsvereinbarung zwischen Google und Kairos Power – unterstreicht das wirtschaftliche Potenzial dieser Technologie. Die inhärente Sicherheit der Triso-Brennelemente – kombiniert mit der Flexibilität der modularen Auslegung – macht diese Reaktoren besonders attraktiv für einen Markteintritt im Zeitraum 2029–2032.

Die technologische Reife dieser Systeme wird eindrucksvoll durch den erfolgreichen Betrieb des HTR-PM in China demonstriert, der seit Dezember 2021 am Netz ist und die erste kommerzielle Anwendung der Triso-Kugelhaufentechnologie darstellt. Dieser Reaktor hat bereits die inhärente Sicherheit des Konzepts in Praxistests bestätigt, bei denen erstmals weltweit nachgewiesen wurde, dass sich ein kommerzieller Reaktor dieser Grössenordnung ohne Notkühlsysteme auf natürliche Weise gefahrlos abkühlen kann.

Natalia Amosova

Natalia Amosova ist Principal Consultant bei Apollo+ GmbH, wo sie Projekte für Betreiber von Nuklearanlagen und Industriekunden in den Bereichen regulatorische Compliance, nukleare Sicherheit, Energiestrategie und Due Diligence leitet. Zuvor war sie Leiterin der Geschäftseinheit für Kernenergie eines Zulieferers für Kernkraftwerke, wo sie ab 2014 die Nuklearindustrie weltweit unterstützte. Davor arbeitete sie bei einem grossen Zulieferer für Nuklearkomponenten, zunächst im Vertrieb, später im Projektmanagement, in der Geschäftsentwicklung und bei der Markteinführung neuer Sicherheitssysteme nach dem Reaktorunfall von Fukushima. Ihre Karriere begann sie im Bereich der Stilllegung von Kernkraftwerken.
Natalia Amosova hat in Deutschland Maschinenbau studiert. Sie ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Kernfachleute, unabhängige Beraterin der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und beteiligt sich an zahlreichen nationalen und internationalen Arbeitsgruppen. Ausserdem ist sie eine vom Bundesamt für Gesundheit anerkannte Radonexpertin.

Verfasser/in

Natalia Amosova, Principal Consultant bei Apollo+ GmbH

Bleiben Sie auf dem Laufenden

Abonnieren Sie unseren Newsletter

Zur Newsletter-Anmeldung

Profitieren Sie als Mitglied

Werden Sie Mitglied im grössten nuklearen Netzwerk der Schweiz!

Vorteile einer Mitgliedschaft